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■ Ein Vorschlag zur Kultivierung des Honecker-ProzessesStreitbare Gutachter müssen her

Wie zuvor in den Fällen Mielke und Stoph werden die Richter der 27. Großen Strafkammer an einem der nächsten Verhandlungstage ihrer Fürsorgepflicht genügen: Sie werden das Verfahren gegen den Hauptangeklagten aussetzen und Haftverschonung beschließen. Erich Honecker wird den Gerichtssaal nicht als verfolgte Unschuld verlassen, sondern als schwer belasteter Angeschuldigter, dem mit – rechtsstaatlich begrenzten Mitteln– irdischer Gerechtigkeit nicht mehr beizukommen ist.

Damit könnte die Schwurgerichtsverhandlung gegen die verbleibenden Angeklagten vollends zur Berliner Provinzposse werden. Schon die Kurzbezeichnung für dieses Verfahren, das nicht länger als „Honecker-Prozeß“ bezeichnet werden kann, wird schwierig. Strelitz, Albrecht und Keßler – sind zählebiger als ihre ehemaligen Obergenossen. Sie repräsentieren die zweite und dritte Garnitur der ehemaligen DDR-Führungsriege. Das gegen sie weiter zu führende Rumpfverfahren wird möglicherweise Monat um Monat vor sich hin dümpeln. Die Verteidigung ist mit dem Ausscheiden der exzellenten Honecker-Anwälte entscheidend geschwächt.

Aber genau das wird die ohnehin schlappen Berliner Staatsanwälte noch schlapper werden lassen. Denn was diesem Prozeß, wie schon vorangegangenen Berliner DDR-Prozessen, so deutlich schadet, ist genau das Fehlen eines entschlossenen und streitbaren öffentlichen Anklägers. Daher ein Vorschlag zur Kultivierung des weiterhin notwendigen Verfahrens:

Die 27. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin möge einen oder mehrere historische Sachverständige berufen, die über die Herrschaftsstruktur der DDR Auskunft geben, über die innere und äußere Situation, in der die Mauer gebaut wurde, und die den Handlungs- und Entscheidungsspielraum der einzelnen Beteiligten analysieren.

Die Nürnberger Ankläger ließen sich Hunderte von Expertisen über die politischen Rahmenbedingungen und über einzelne Elemente und Institutionen des nationalsozialistischen Deutschland erarbeiten. Sie gehörten, über die gelegentlich durchaus und notwendigerweise unbefriedigenden Urteile der Gerichte hinaus, später zu den wichtigsten Quellen der Geschichtsschreibung. Kaum ein größeres NS-Verfahren, in dem der historische Sachverständige nicht seinen festen Platz gehabt hätte. Für den Frankfurter Auschwitz- Prozeß gab der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer ein umfassendes Gutachten beim Münchner Institut für Zeitgeschichte in Auftrag. Es erschien bald unter dem Titel „Anatomie des SS-Staates“ und umfaßt 900 engbedruckte Seiten. Dieses Gutachten gehört seither zur Standardliteratur. Im Vorwort schrieben die Autoren – Hans Buchheim, Martin Broszat, Hans-Adolf Jacobsen, Helmut Krausnick – damals (und auch im vorliegenden Fall richtungsweisend) unter anderem: „Der Sachverständige muß ein Bild der historischen und politischen Landschaft geben, in der sich das Einzelgeschehen abgespielt hat. Der enge Zusammenhang zwischen den Taten der Angeklagten und der historisch-politischen Situation, in der die Verbrechen begangen wurden, läßt für die Urteilsfindung spezifische Probleme entstehen. So darf man zum Beispiel nicht der verbreiteten Neigung nachgeben, bestimmte verbrecherische Handlungen bestimmter einzelner in dem Meer allgemeiner politischer und moralischer Mitschuld untergehen zu lassen. Denn es ist nicht nur ein gradueller, sondern ein wesentlicher Unterschied, ob sich jemand den Vorwurf machen muß, sich politisch falsch verhalten zu haben oder feige gewesen zu sein, oder ob ein Mann aktiv und womöglich mit innerer Zustimmung die schmutzigen Geschäfte des Regimes besorgt hat. Die Erörterung der Geschichte im Rahmen eines Strafprozesses erfordert in besonders hohem Maß Rationalität und Nüchternheit. Die pflichtgemäße Sorgfalt der Gerichte bildet in der öffentlichen Diskussion ein heilsames Gegengewicht gegen den weitverbreiteten Stil emotionaler ,Vergangenheitsbewältigung‘, die es, um einige höhere Wahrheiten wirkungsvoll darzustellen, mit der Wirklichkeit der geschichtlichen Fakten und Zusammenhänge nicht sonderlich genau nimmt. Die Strenge des Gerichtsverfahrens bietet einen Maßstab für die Rationalität, derer wir bedürfen.“

Die Berliner Staatsanwaltschaft sah sich, getrieben vom bornierten, frontstädtischen Biedersinn der „eigenen Anschauung“, nicht in der Lage, den Auftrag zu einem solchen historischen Gutachten zu erteilen. Die Entscheidung darüber liegt nun in den Händen des Gerichts. Der Auftrag zu diesem Gutachten würde die Grenzen der Juristerei in einem solchen historisch-politischen Verfahren anerkennen und dem Gericht gleichzeitig die Möglichkeit geben, „die Umstände des Einzelfalles zu ermitteln und ein Urteil über Schuld und Unschuld zu fällen“, wie die Gutachter im Auschwitz-Prozeß seinerzeit schrieben. Von Baring bis Weber, von Leonhardt bis Staritz stehen genügend anerkannte Forscher zur Verfügung. Außerdem könnten – und das wäre für den Charakter des Prozesses von hoher Bedeutung – jüngere Historiker aus der ehemaligen DDR an dieser Arbeit beteiligt werden. Damit ließe sich die öffentliche Wahrnehmung und Bedeutung des Prozesses entscheidend verändern, ließe sich am Ende ein Urteil fällen, das – gegebenenfalls auch posthum – die individuelle Schuld von Erich Honecker und Genossen feststellt, aber die dramatischen geschichtlichen und politischen Hintergründe nicht ausblendet. Ein Urteil auch, das die Schuld des einzelnen nicht gegen den „Sachzwang“ der Politik ausspielt. Götz Aly

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