Ein Schulleiter über Hauptschüler: "Die Kinder sind clever"
Der Schulleiter Manfred Paul fordert, Hauptschülern mehr Zeit zu geben. Er warnt davor, sie von Bildungsstandards abzukoppeln. Denn das hätte zur Folge, die Hauptschulen endgültig zu Restschulen zu machen.
taz: Herr Paul, werden Hauptschüler immer dümmer?
Manfred Paul: Nein, die Kinder können genauso viel wie früher. Aber die Anforderungen, die in der Arbeitswelt gestellt werden, sind heute anders. Die Schüler müssen mit Maßen und Längen hantieren, Tabellen lesen können, brauchen Wahrscheinlichkeitsrechung und Statistik. Das ist für viele ein Problem.
Mehr als die Hälfte der Hauptschüler unterläuft die bundesweiten Bildungsstandards in Mathe und Englisch. Sind die Anforderungen zu hoch für diese Klientel?
Die meisten Hauptschüler sind in ihrer Kindheit nicht so gefördert worden, wie Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern. Sie leiden unter massiven Bildungsverlusten und brauchen einfach länger Zeit. Wir sehen das bei uns in der Schule. In der fünften Klasse, wenn die Kinder zu uns kommen, sieht es katastrophal aus. In der achten Klasse verbessern wir uns und in der zehnten sind die Anforderungen in Mathe für den Hauptschulabschluss dann fast zu niedrig. Wir liegen im Vergleich zu anderen Hauptschulen über dem Schnitt.
Was machen Sie anders?
Wir nehmen uns mehr Zeit. Wir sind eine gebundene Ganztagsschule, das heißt die Kinder sind 38 Stunden pro Woche in der Schule. Das gibt uns den Raum, ganz andere Förderstrukturen aufzubauen. Wir können alle Schüler individuell fördern und müssen nicht für die Schwachen Nachhilfe am Nachmittag anbieten.
Sind von oben verordnete Bildungsstandards da ein Ansporn oder eher eine Drohung?
Die Standards sind wichtig, wenn wir Schule anders denken wollen. Heute orientieren wir uns an Lehrplänen und sagen: wir brauchen fünf Stunden Mathe, eine Stunde Englisch und so weiter. Aber diese Orientierung an reiner Fachlichkeit ist überholt. Bildungsstandards sind soetwas wir Benchmarks, sie zeigen auf, wohin wir wollen. Wenn eine Schule diese von außen gesetzten Ziele vor Augen hat, kann sie mit den Schülern eigenverantwortlich ein Trainingsprogramm absolvieren.
Wie unterscheidet sich das Trainingsprogramm vom herkömmlichen Unterricht?
Ein Beispiel: wir nehmen in Deutsch die Ballade durch, schreiben nach zwei Wochen die Klassenarbeit und stellen dann fest, dass zwei Drittel der Schüler es nicht verstanden haben. Wenn ich aber weiß, dass alle achten Klassen im März eine Lernstandserhebung schreiben, muss ich nicht zwei Wochen lang den Unterricht auf die Ballade ausrichten. Ich kann stattdessen in Lernfeldern denken und projektbezogen arbeiten. In das Lernfeld Naturwissenschaften etwa gehören Mathe und Deutsch. Die Schüler müssen Informationen aus Texten rausziehen können und viel rechnen. Und das ist spannend für sie, wenn sie ein Thema interessiert.
Was passiert, wenn Bildungsstandards wegfallen, fehlt dann die Motivation?
Dann macht man aus der Hauptschule wirklich eine Restschule. Man schafft praktisch Förderschulen, die beteiligen sich auch nicht an Lernstandserhebungen. Wir dürfen die Kinder aber nicht von den Bildungsstandards der allgemeinbildenden Schule abkoppeln, sie haben Ideale und Fähigkeiten.
Auch wenn Bildungsstandards ihnen bescheinigen, dass ihre Fähigkeiten nicht ausreichen?
Damit, dass wir Standards aussetzen, bringen wir keine Entwicklung in Gang. Als Gesellschaft müssen wir damit leben, dass es auch schlecht läuft, wir brauchen diese Rückmeldung. Aber die Kinder sind clever, sie schaffen das. Wir müssen nur mehr aus ihnen machen.
Indem wir noch mehr Bildungsstandards definieren?
Ich würde die Bildungsstandards erweitern und zum Beispiel auch Teamfähigkeit testen. Da könnten gerade unsere Schüler ihre Fähigkeiten einbringen. Aber generell habe ich die Hoffnung, dass die Hauptschüler auf andere Schulformen verteilt werden und dann von den besseren Schülern mitgezogen werden. Unser ganzes Schulsystem muss sich öffnen und ändern, wenn wir alle Potentiale ausschöpfen wollen.
INTERVIEW: ANNA LEHMANN
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