■ Ein Ruck soll, so Kohl und Herzog, durch Deutschland gehen. Doch der letzte kollektive deutsche Ruck endete 1945 in Trümmern. Plädoyer für einen Regierungswechsel: Deutschland, erwache?
Der Bundespräsident behauptet, ich hätte ein Umsetzungsproblem. Deshalb, behauptet der Kanzler, müsse ein Ruck durch mich hindurchgehen.
Oder reden sie, der Präsident, der Kanzler, von dir? Oder von Ihnen gar? Ich nämlich bin von mir der Meinung, daß durch mich Tag für Tag viel zu viele Rucks hindurchgehen; statt mich dauernd umzusetzen, sollte ich endlich mal an meinem Platz bleiben. – Also werden sie dich im Auge haben, der Präsident, der Kanzler. Oder sich selbst? Den Kanzler bekamen wir ja gleich in Badehosen in Australien zu sehen: unbeschreiblich umfangreich, mehr Hügel als Mann, da hat ein jeder Ruck es schwer mit dem Hindurchgehn. Während der Präsident, da waren die Beobachter einig, mit seiner Rede im Adlon den Ruck nicht bloß forderte, sondern höchstselbst auch schon performierte.
Aber im Ernst. Die Gesellschaft der Individuen, die wir bilden – schon so lange: seit wir Marktwirtschaft und Parlamentarismus betreiben, nicht erst seit gestern, als Professor Beck aus München die Risikogesellschaft erfand –, diese individualisierte Gesellschaft hat es schwer mit den Rucks, sofern sie nicht nur mich, dich oder Sie in Bewegung bringen, sondern uns alle gemeinsam, damit die kritische Erkenntnis der gesellschaftlichen Lage (endlich) umgesetzt werde in gemeinschaftliches Handeln (o.s.ä.). In der modernen Welt unterliegt auch der Ruck dem fundamentalontologischen Existenzial der Jemeinigkeit, wie es Professor Heidegger schon in den zwanziger Jahren entdeckte: Jeder anerkennt nur seinen höchstpersönlich eigenen Ruck.
Professor Heidegger freilich begann schon damals, als die Weimarer Republik politisch und ökonomisch zunehmend zerfiel, sich für ruckartige Gemeinschaftserlebnisse zu interessieren, kollektive Wallungswerte, dank derer die Jemeinigkeit des Daseins sich in ein Wir- Sein transformiere. Statt Parlamentarismus und kapitalistischer Ökonomie (plus organisierter Arbeiterbewegung) – das deutsche Volk. Tüchtig setzte Professor Heidegger seine diesbezüglichen Erkenntnisse in Vorlesungen und Vorträgen um, die wie Erweckungsgottesdienste wirkten, damit wir, Deutschland, erwachen und unseren gemeinsamen Willen im Willen unseres Führers Adolf Hitler erkennen...
Seitdem ließ die Nachfrage in puncto ruckartige Gemeinschaftserlebnisse stark nach, zumal der Führer – wie vorauszusehen war – nichts anderes als den Weltkrieg zum Inbegriff dessen erkor, was wir, Deutschland, als seinen Willen umsetzen sollten, eine Umsetzung, die Deutschland so tüchtig zerstörte, daß wir uns noch heute nur zögernd in diesem Namen versammeln und lieber auf die kühlen Prozeduren vertrauen, die in der modernen Welt der individualisierten Gesellschaft Entscheidungen ermöglichen, die im nachhinein wie kollektiver Wille immerhin ausschauen, Parlamentswahlen, Tarifverhandlungen, Gerichtsverfahren bei Normverletzungen. Zu dem Erfolg und der Dauerhaftigkeit des hügelartigen Kanzlers trägt meines Erachtens wesentlich bei, daß er uns all die Jahre so wenig begeistern kann.
Der geringen Nachfrage in puncto ruckartige Gemeinschaftserlebnisse entspricht auf der anderen Seite ein Überangebot. Wer hat uns in den letzten Jahren nicht alles zum Krieg zu versammeln gesucht. Zum Krieg gegen FCKW oder Aids, Kinderprostitution oder die Rechtschreibreform, Scientology oder die Abtreibung, BSE oder Castor. Ununterbrochen erzeugt die individualisierte, in zahllose Funktionssysteme und Subkulturen ausdifferenzierte Gesellschaft Anlässe für Kampagnen, die mir, dir und Ihnen ruckartige Gemeinschaftserlebnisse verschaffen, aber wegen ihres kurzen Atems, ihrer Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Jemeinigkeit glücklicherweise meist folgenlos bleiben. Auch Weltkriegsangebote, die unsere Unfähigkeit zum Wir-Sein umfassend bedrohen, lassen wir routiniert verleppern: Soll er doch keifen, der Sänger Botho auf seinem Bühel in der Uckermark, über die große Stadt, daß sie zu zerstreut und verrottet sei, um ihr Wir-Sein in seinem, des Sängers Botho, Willen zur Dichtung als Krieg gegen die moderne Welt zu entbergen. Dafür kriegt er eine hübsche Geschichte in dem Hamburger Nachrichtenmagazin, die Fotos von Stefan Moses sowie ein ordentliches Honorar.
– Aber du mußt doch mal zugeben, wirst du hier unterbrechen, daß auch du dich stürmisch gefreut hast über den Wahlsieg von New Labour. Bei jedem erreichbaren Stehempfang hast du jedem erreichbaren Glasträger zugeprostet: „Auf Tony Blair!“ Ebenso ist es bei Clinton gewesen, als er George Bush ablöste; hätte Clinton jetzt die Wiederwahl verfehlt, du wärst mächtig enttäuscht gewesen. Und erinnere dich an 1969, wie unbändig wir uns über den Wahlsieg von Brandt und Scheel freuten.
Stimmt, es hätte mich mächtig enttäuscht, wäre in den Nachrichten jetzt anhaltend die Rede vom britischen Premierminister Major – unvergeßlich, wie endlich „Bundeskanzler Brandt“ figurierte. Was der Präsident, der Kanzler als ruckartiges Gemeinschaftserlebnis forderten, das wäre also keine mystische Versammlung und Anspannung der deutschen Volkskräfte, damit wir endlich den Krieg gegen die Arbeitslosigkeit gewinnen (oder was immer) – was Präsident und Kanzler vorschwebt, das ist nichts anderes als ein Regierungswechsel. Wir wollen endlich in der „Tagesschau“ sehen, wie Bundeskanzler Schröder von Bundespräsident Herzog seine Ernennungsurkunde ausgehändigt wird.
Denn wie anders sollte sich in der ausdifferenzierten Gesellschaft, die bei Entscheidungen auf die Legitimation durch Verfahren vertraut statt auf Anspannung mystischer Volkskräfte, als Wallungswert kollektiv ausbreiten, daß jetzt ein neues Kapitel beginnt?
It's time for a change.
Dabei stimmen die Beobachter überein, daß Tony Blair und New Labour ihr überwältigendes Mandat für den Wechsel nur deshalb erhalten haben, weil ich, du und Sie in England sicher sind, es werden nicht plötzlich staatlicherseits ruckartige Gemeinschaftserlebnisse uns abverlangt. Damit sich alles ändern kann, muß alles ungefähr so bleiben; aber wenn alles so bleibt wie jetzt – bloß predigen der Präsident, der Kanzler hin und wieder die Wende, die grundstürzende Veränderung –, dann geht es nicht mehr lange gut. Michael Rutschky
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