Ein Hauch von Elektronik

So souverän wie möglich, so trocken wie nötig: Die Ost-Wissenschaftlerin Dagmar Schipanski ist die erste Rektorin einer technischen Universität und die erste Vorsitzende des Wissenschaftsrats  ■ Von Karin Flothmann

Die vorherrschenden Farben sind Grau und Beige. Und die Kleidung der Rektorin paßt sich dem gedeckten Ambiente des schmucklosen Senatssaals an. Helle Bluse, graues Jackett, dunkler Rock. Dazu eine lange Perlenkette. Der einzige Farbklecks leuchtet an ihrer linken Hand: ein großer Korallenklunker.

Morgens um acht, wenn sich der Senat der Technischen Universität Ilmenau im achteckigen Campus- Center zusammensetzt, wirkt Dagmar Schipanski noch sehr wach und lebendig. Doch diese Frische hält nicht lange. Während sie die Tagesordnung Punkt für Punkt abhakt, schlüpft die erste Frau an der Spitze einer technischen Hochschule flugs in die Rolle der trockenen, souveränen Diskussionsleiterin. Von der Stirnseite des achteckigen Tagungstisches aus hält sie sich an die Formeln, die die Konferenzsprache für solche Gelegenheiten parat hält: „Top elf, der Hochschulplan des Landes Thüringen. Ich bitte um Stellungnahmen!“

Vor der Wende waren an der TU noch 2.500 StudentInnen und 1.600 Beschäftigte. Seither wurde die Universität, wie alle ostdeutschen Hochschulen, einmal auf den Kopf gestellt und völlig umstrukturiert. Rund 600 MitarbeiterInnen verloren ihre Arbeit. Von den 80 Professoren – unter ihnen sind nur ganze 4 Professorinnen – stammt heute rund die Hälfte aus den alten Bundesländern. Inzwischen sind laut Stellenplan noch rund tausend Menschen an der Universität beschäftigt. Nun sollen noch einmal rund hundert abgewickelt werden.

„Unsere Universität soll sich westdeutschen Verhältnissen angleichen“, erklärt die habilitierte Ingenieurin Schipanski, will heißen: Je mehr StudentInnen die Uni akquiriert, desto eher bleiben ihr Stellen und Gelder erhalten. Dabei ergab eine bundesweite Umfrage, daß StudentInnen gerade die familiäre Atmosphäre in Ilmenau schätzen. Noch ist die TU aus diesem Grund beliebteste Ost-Uni, und Dagmar Schipanski will alles dafür tun, daß es auch so bleibt. „Massenuniversitäten, wie ich sie zum Beispiel in Münster kennengelernt habe, sind für mich völlig unakzeptabel.“

Im Senat flammen angesichts drohender Stellenstreichungen die Verteilungskämpfe auf. „Kleinkariert“ nennt Schipanski dieses Feilschen um die eigenen Pfründen. Doch das sagt sie nicht laut. Im Senat bleibt sie ganz die beherrschte Rektorin. Nur ab und an schweift ihr Blick zur Decke des Raumes, als wolle sie dort den Blick für das „Große und Ganze“ beschwören.

„Es geht doch darum, daß Wissenschaft sich international verknüpft“, meint die 52jährige, und aus ihr spricht die Bildungspolitikerin, die auf der Suche nach Projekten und Geldern in den außeruniversitären Gewässern fischt. Der Politikerin Schipanski geht es um Kontakte, um „Innovationen“. Diese fand die habilitierte Ingenieurin außerhalb der Universität.

Seit 1992 ist sie Mitglied des Wissenschaftsrates, im Januar wurde sie einstimmig zur neuen Vorsitzenden des führenden Expertengremiums von Bund und Ländern gewählt. Seit fast 40 Jahren befindet sich der 40köpfige Wissenschaftsrat fest in männlicher Hand, bis zur Spitze hatte es bisher noch keine Frau geschafft.

Im Senat der TU steht inzwischen die Wahl der Gleichstellungsbeauftragten an. Die einzige Kandidatin heißt Gabi Schade. Seit vier Jahren kümmert sie sich schon um die Belange von TU-Studentinnen und -Mitarbeiterinnen. Und sie wird sich auch noch zwei weitere Jahre um das ungeliebte Amt kümmern dürfen – die Wahl fällt einstimmig aus.

Dagmar Schipanski, die bisher ganz konventionell und steif in ihrem Chefsessel residierte, fällt kurz aus der Rolle. Kaum ist das Wahlergebnis bekannt, da springt sie auch schon auf und stürmt quer durch den Raum. „Ich freu' mich für dich, Gabi! Herzlichen Glückwunsch!“ Sagt's und ergreift die Hand der neuen alten Frauenbeauftragten. Einer der Senatsherren im grauen Anzug kichert. Von Quotierungen und ähnlichem Schnickschnack aus dem frauenbewegten Westen hält Dagmar Schipanski eigentlich wenig. „Allein das Wort Frauenförderung finde ich schon unselig.“ Was per Gesetz vorgeschrieben ist, so ihr Credo, reize doch nur dazu, es zu unterlaufen. Sie spricht lieber von der „Chancengleichheit für Frauen in der Wissenschaft“.

Vom Campus-Center sind es nur zwei Minuten Fußweg, und Dagmar Schipanski hat ihr Rektoratsrefugium erreicht. Gleich nebenan türmen sich mehrere fünfgeschossige Wohnheime im Stil der sechziger Jahre, noch einige Schritte weiter, und man erreicht die Institute der Elektrotechniker und Maschinenbauer – auf diesem geschlossenen Campus am östlichen Stadtrand von Ilmenau leben, wohnen und arbeiten die rund 3.000 StudentInnen der TU. Eine Kinderkrippe kümmert sich um den studentischen Nachwuchs, Lebensmittelläden und Clubs sorgen für das leibliche und gesellige Wohl der StudentInnen.

Seit Anfang der siebziger Jahre ist dies das Wirkungsfeld von Dagmar Schipanski. Heute residiert sie hier hinter einem großen eichenschweren Schreibtisch. An der ansonsten schmucklosen Wand hängen ein paar Kinderzeichnungen. Über ihr Privatleben spricht Dagmar Schipanski nicht gern. Da bleibt sie unverbindlich. „Mein Mann geht einkaufen, ich mache den Haushalt.“ Zu dem gehören noch zwei Töchter und ein Sohn. Zwei Kinder haben bereits Abitur gemacht, die Jüngste ist 14. Früher war es schon ein dauernder „Spagat zwischen der wissenschaftlichen Arbeit und zu Hause. Gott sei dank lag unsere Wohnung nur drei Minuten vom Institut entfernt.“

Wird sie nach ihren Freizeitinteressen gefragt, dann nennt die Ingenieurin an erster Stelle die Familie. Viel Zeit bleibt allerdings nicht dafür. Sie wird mit Beschlag belegt. Ein emeritierter Professor gratuliert Ihrer Magnifizenz formvollendet zur Wahl in den Senat der Fraunhofer-Gesellschaft. Ein anderer überreicht zum Ende des Gesprächs „ganz privat“ ein selbstverfaßtes Gedicht über den „Sang der Lerche“. Familienatmosphäre in Ilmenau.

Erst am späten Nachmittag findet Dagmar Schipanski noch Zeit, sich ihrem eigentlichen Metier, der Technik, zu widmen. Die Ausstattung der Uni kann sich seit der Wende sehen lassen. „Früher lernten unsere Studenten die Programmiersprachen noch auf dem Papier“, sagt Schipanski. Und die wenigen Rechner der Universität waren bekannt dafür, daß sie die Langsamkeit entdeckten. 30 Millionen Mark wurden seither investiert. Mittlerweile sind Versuchsaufbauten und Computer in Teilen moderner als an vergleichbaren Universitäten im Westen.

Bei den Elektrotechnikern bewegt sich Dagmar Schipanski auf ihrem Terrain. Mit weit ausholenden Schritten stürmt sie durch das Institut zu ihrem Allerheiligsten: einem kleinen Raum, in dem gerade Sensoren für die Umweltmeßtechnik entworfen und getestet werden. Durch verschiedene Röhren wird hier computergesteuert ein Gasgemisch geleitet. Auf dem Kopf eines Zylinders sitzt ein kleiner Siliciumchip. Um den geht es. In Windeseile entfalten sich in dieser Umgebung die Eigenschaften der Dozentin Schipanski. Gestikulierend wendet sie sich einer Schautafel zu: „Hier, das ist der Chip im Querschnitt. Durch diese kleine Luftkammer schicken wir Stickoxide hindurch, und die Transistoren liefern uns prompt genaue Meßergebnisse über die Konzentration des Gases.“ Ein Computerbildschirm entwickelt in Sekundenschnelle Aktivität: Er zeigt prompt die Meßdaten an.

„Da geht's nur noch um Bruchteile von Millimetern“, schwärmt Schipanski. Und dieser Nanokosmos, da ist sich die Ingenieurin Schipanski sicher, ist die Zukunft der neuen Technologien. „Letztlich ist die Elektronik dann nur noch ein Hauch“, meint sie und lächelt, als wähnte sie sich schon in fernen Zukunftswelten.

Dem elektronischen Hauch muß Dagmar Schipanski in den nächsten Jahren allerdings entsagen. In Ilmenau wird schon Ersatz für die Rektorin gesucht. Aus der Ingenieurin wurde endgültig die Bildungspolitikerin.