Ein Geständnis von Rainer Nübel : Rechthaber
Irgendwann einmal muss es raus. Und einer muss es ja einmal sagen, am besten ich selbst, denn dann brauche ich mich auf kein Gegenargument oder eine andere Sichtweise einzulassen. Was ich sowieso nicht tun würde, wo kämen wir denn da hin? Wobei ich der festen Meinung bin, dass dieses unangenehme Thema, das mich seit einiger Zeit anfällt und umtreibt, viele andere auch betrifft, vielleicht sogar eine ganze Generation. Aber meine Spezies hat jahrelange, nein: jahrzehntelange Erfahrung darin, Realitäten und Wahrheiten so hinzudrehen, dass es am Ende wieder passt. Kurzum: Ich bin ein Rechthaber. Ich möchte immer und überall recht haben – vor allem, wenn es um politische Positionen geht.
Klar, jetzt könnte man sagen, das ist ein Mann, und Männer wollen immer recht haben. Journalisten sagt man mitunter dasselbe nach. Also gäbe es gleich eine doppelte Erklärung für diese Manie, die man durchaus als Defekt diagnostizieren könnte. Doch all das greift zu kurz. Um auch das klarzustellen: Meine Eltern tragen keinerlei Verantwortung für mein Problem. Oder vielleicht nur insofern, als sie mich im Jahr 1959 in diese Welt setzten. Aber ihnen das vorzuwerfen wäre gänzlich ungerecht. Und wenn ein Rechthaber das sagt, ist das auch so.
Vielmehr liegt das Ganze eindeutig an der Zeit, in der ich sozialisiert und politisiert wurde: Mitte der 70er Jahre. Die Ungnade der späten Geburt. Für die 68er Revolution war ich zu jung. Tatsächlich spielte ich damals Fußball, mein Idol hieß Franz Beckenbauer, und der stand, wie ich später mit Schrecken feststellte, der CSU deutlich näher als dem SDS. Weshalb ich irgendwann zu Günther Netzer überlief.
Wer Antisemitismus und Krieg anprangert, hat natürlich recht
So viel Eingeständnis muss sein: Als Spätgeborener war und bin ich ein 68er-Epigone. Und Epigonen sind oft (noch) dogmatischer und verkrampfter als die Originale. Und sie wollen gern hundertprozentig sein. Den postrevolutionären Anstoß bekam ich durch zwei Umstände: Ich sah den Hitler-Film von Joachim Fest, war zutiefst schockiert – und konfrontierte fortan beim Abendessen die Eltern regelmäßig mit der Frage, warum sie nichts gegen diese Diktatur und dieses unfassbare Unrecht getan hätten. Dass beide erst Ende der 20er Jahre geboren worden waren, in der NS-Zeit also noch Jugendliche waren, störte meine Kardinalkritik nicht. Ich hatte recht. Wer Antisemitismus, Krieg und Diktatur anprangert, hat natürlich recht.
Und als ich im Spiegel las, wie ehemalige Nazis nahtlos wichtige Positionen in diesem Staat eingenommen hatten, und als ich ältere Leute Judenwitze erzählen hörte, verfestigte sich das Bild, wurde immer klarer: Dieses Land hatte nichts dazugelernt. Es war faschistoid. Eindeutig.
Gleichzeitig zog es mich magnetisch in die linksalternative Szenekneipe im kleinen Nürtingen. Dort, wo man sich bei Bier und Gyros versicherte, anders zu sein, nicht so wie die Spießer in der Schule, und wo an einem separaten Tisch die Älteren saßen, mit langen Haaren und spannenden Anekdoten, wie sie dabei waren, in Berlin, bei den Protesten und wilden Aktionen. Damals, 68.
Je länger die eigenen Haare und je wüster die Tribunale am elterlichen Abendtisch wurden, desto fester rastete ein Automatismus ein. Dagegensein war richtig und wichtig, egal wogegen man war. Hauptsache: dagegen. Damit stand ich auf der einzig richtigen Seite. Und hatte recht. So was von recht. Die Mitschüler vorne in der ersten Reihe, die sich im Gemeinschaftsunterricht innig mit der CDU-Politik beschäftigten, waren Erzkonservative, reaktionär. Natürlich, keine Frage. Und daher wurde mit denen nicht groß diskutiert. Man konnte mit denen gar nicht diskutieren, weil sie partout nicht einsehen wollten, dass wir recht hatten, wir, die anderen, die das System durchschauten. Der Vorteil meiner nach und nach gereiften Rechthaberei war: Alles war so klar, so eindeutig, alles stand unumstößlich fest. Also alles, was ich dachte und sagte. Die Welt draußen, jenseits der Szenekneipe, hatte Brüche, krasse Widersprüche, war verlogen und kaum noch zu retten. Wenn, dann nur von uns, den anderen, die Bescheid wussten, die dagegen waren.
Im Studium hatte ich die richtigen Fakultäten gewählt, um mein kritisches Bewusstsein weiter zu schärfen: Geschichte und Germanistik, ein Dorado für Kopfkämpfer und Sofarevoluzzer, für Ausdiskutierer und Arbeitsgruppen, in denen die Hermetik des Rechthabens der zu beschreibenden Hermetik von Celan-Gedichten nahezu gleichkam. Heines „Wintermärchen“ war Pflichtlektüre in der Germanisten-WG, auch Hölderlins Deutschenschelte im „Hyperion“. Brecht, Adorno und Böll waren es sowieso.
Dass die Ideologierecken aus der marxistisch-leninistischen Grundsatzabteilung Vorlesungen im Tübinger Brechtbau dauerstörten, war zwar irgendwie nervig, wenn man ehrlich war; aber welche Courage hatten die, welche Konsequenz in ihrem Rechthaben. Da konnte einen fast das schlechte Gewissen packen.
Also erhöhte ich die Taktzahl von Demobesuchen: gegen Krieg, Kapitalismus, Ungerechtigkeit, Pershing-Raketen, Asylpolitik, Atom, Waldsterben et cetera et cetera. Recht zu haben und die Welt zu retten fordert den ganzen Menschen. Vor allem sein ganzes Ego. Das war mir heilig. Und auch sonst kannte ich fast alle Konstantin-Wecker-Songs auswendig. Besonders emphatisch litt ich mit ihm am schauerlichen Vaterland, dem Land der Richter und Henker. Wie recht er hatte – wie er mich und mein eigenes Rechthaben bestätigte!
Tja, und dann kamen die vielen langen Jahre, in denen meine Rechthaberei enormen Herausforderungen und Anfechtungen ausgesetzt war. Die große Veränderung, die große Revolution hatte nicht stattgefunden. Stattdessen war sie zerschossen und zerbombt worden, von der RAF mit ihrem irrsinnigen Terror. So was führe eben zu so was, predigten nun die Konservativen, man habe es schon immer gewusst, Protestbewegungen wie die 68er seien problematisch für eine Demokratie, wenn nicht sogar gefährlich. Das tat richtig weh.
Und als nach der Wende 1989 die real existierenden Lügen, Ungerechtigkeiten und Gräuel sozialistischer Regime immer evidenter wurden, war es mindestens genauso schwer, sein Rechthaben ungestört weiterzuleben. Das Argument, in der Theorie werde Marx immer recht haben, wollte partout nicht richtig greifen. Und manchen Tübinger Ideologierecken aus der marxistisch-leninistischen Grundsatzabteilung sah ich jetzt in einem Lesesaal der Bibliothekswissenschaft wieder, in braver Lektüre bürgerlicher Literatur. Wie auf Entzug.
Mir fiel auf, dass Freunde und Bekannte, die zehn Jahre jünger, also in den 60er Jahren geboren worden waren, diese Attacken aufs eigene Rechthaben viel gelassener nahmen. Man müsse das eben pragmatisch sehen, die Welt ändere sich nun mal und daher müsse man sich selbst ab und an auch ändern, sagten sie. „Pragmatisch“, wie ich dieses Wort hasste. Das klang nach Verrat am Prinzipiellen, am Richtigen, am Rechthaben.
Eine Selbsthilfegruppe für die recht habenden Protestler
Aber in den vergangenen Monaten, da bekamen Rechthaber wie ich wieder mächtig Oberwasser. Und spürten Höhenluft. „Hatte Marx doch recht?“, fragen sich plötzlich Konservative, voll Sorge, weil die neue Finanzkrise endgültig die Fratze des Kapitalismus offenbart. Das geht runter wie Öl. Holla, wir sind wieder wer, wir Rechthaber. Und dann, vor allem, diese neue Stuttgarter Republik. Die große Revolution, doch noch – gegen einen Tiefbahnhof und seine mächtigen Macher. Wenn das keine Renaissance des Rechthabens ist!
Mich würde, rein empirisch, interessieren: Wie viele der recht habenden Protestler gehören eigentlich meiner Generation an?
Man könnte ja an eine kleine Arbeitsgemeinschaft denken. Oder an einen Betroffenenkreis mit Angehörigen. Oder eine Selbsthilfegruppe. Nur so.