: Ein Finger für eine Ziege
Die italienische Schriftstellerin Dacia Maraini erinnert sich an Kindheitsjahre in einem japanischen Internierungslager
Von Nina Apin
Irgendwann trifft der Hass der anderen die drei Mädchen. Weil für sie keine eigene Nahrungsration vorgesehen ist, müssen alle Erwachsenen pro Tag einen halben Löffel Reis für die Drei-, Fünf-und Siebenjährigen abgeben. Für Menschen, die seit Monaten unter quälendem Hunger leiden, ein fürchterliches Opfer, über dessen Einhaltung die Aufseher wachen, wie über all die anderen Regeln, die den Gefangenen abverlangt werden.
Die 19 Menschen, die in den Umkleiden eines ehemaligen Tennisplatzes im japanischen Nagoya interniert sind, gelten als Volksverräter und werden entsprechend schikaniert. Die Wachen stehlen ihre Essensrationen und drohen lachend, ihnen die Kehlen durchzuschneiden, sobald der Krieg gewonnen sei. Sie leiden unter Ungezieferbefall, Hungerkrämpfen und der Vitamin-B1-Mangelkrankheit Beriberi, die zu Blutungen, Inkontinenz und Dauererschöpfung führt.
Die bekannte italienische Schriftstellerin Dacia Maraini ist im September 1943 sieben Jahre alt, als ihre Eltern sich als überzeugte Antifaschisten weigern, dem Dreimächtepakt zwischen Japan, Nazideutschland und der faschistischen italienischen Republik von Salò die Treue zu schwören. Eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen: Zwei Jahre lang werden der Anthropologe und Japanologe Fosco, die Lehrerin Topazia und ihre Töchter Dacia, Toni und Yuki in ein Lager gesperrt.
Fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und ihrer Befreiung durch amerikanische Soldaten (das italienische Original erschien 2023) wagt sich die heute 89-Jährige an die Schilderung ihrer kindlichen Leidenszeit: Maraini erzählt in ihrem nun ins Deutsche übersetzten Buch „Ein halber Löffel Reis“, wie sie von einer assimilierten „kleinen Japanerin“, die an Reinkarnation glaubte, nie Brot aß und von ihrer Amme in die Welt der japanischen Märchen und Mythen eingeführt wurde, über Nacht zur ausgestoßenen Fremden wurde, die nicht einmal mehr Kind sein durfte – Spielen war im Lager verboten.
In eindrücklichen Anekdoten schildert sie Überlebensstrategien wie das Essen von Ameisen und seltene Höhepunkte des Lageralltags, wie die süße Creme, die ein mitgefangener Chemiker an Weihnachten aus ein paar Eiern, Reismehl und Zuckermilch zaubert. Oder an den verzweifelten Mut des Vaters, der sich während eines Hungerstreiks einen Finger abhackt – was den Insassen eine Ziege einbringt. Maraini erklärt das mit einer alten japanischen Gesellschaftsverpflichtung, dem Giri, den der Einzelne gegenüber der Gesellschaft, aber auch für die eigene Ehre praktizieren soll. „Fosco hatte Giri gegenüber dem eigenen guten Namen und gegenüber Italien praktiziert […] offensichtlich hatte die alte Sprache ihren soldatischen Geist erreicht.“
In Marainis Erzählen mischt sich das Erleben aus der Perspektive eines Kindes mit allgemeinen Reflexionen über das Verhalten von Menschen im Überlebenskampf und im Krieg. Sie schildert, wie die anfangs solidarische Häftlingsgemeinschaft von Hunger und Hoffnungslosigkeit zersetzt wird, und denkt über das organisierte Massentöten in den deutschen Konzentrationslagern nach, von deren Existenz sie als Kind nichts wusste, mit denen sie sich aber als Erwachsene intensiv beschäftigt hat.
Vereinzelte Akte der Menschlichkeit
Reichte denen, fragt sie sich, die stündlich Viehwaggons voller Menschen vorbeifahren sahen, die Erklärung aus, dass da nur Vaterlandsverräter und Verbrecher ins Arbeitslager gebracht würden – eine Kategorie, zu denen auch sie und ihre Familie im faschistischen Japan gestempelt wurde? Obwohl Maraini vereinzelte Akte der Menschlichkeit erlebte, etwa wenn Bauern ihr Kartoffeln zusteckten, illustriert sie eindrücklich, wie sehr die Propaganda die japanische Bevölkerung im Griff hatte: 1945 töteten sich viele selbst, um nicht den als unmenschlich dargestellten amerikanischen Besatzern in die Hände zu fallen – nicht etwa die andauernde Freundlichkeit der Lebensmittel überreichenden Soldaten beendete die Suizidwelle, sondern erst eine öffentliche Ansprache des Kaisers.
Es sind vor allem diese Einblicke in Denkmuster eines vergangenen archaischen Japans und über ein bislang kaum bekanntes Kapitel aus der Endphase des Zweiten Weltkriegs, die Dacia Marainis Buch zu einer bereichernden Lektüre machen. Ihre aufrechte moralische Grundhaltung und ihr Ringen um Menschlichkeit scheint auf jeder Seite durch. In einem Interview sagte die betagte Schriftstellerin, wer innere Stärke besitze, brauche keinen Identitätsverlust zu fürchten. Eine klare Breitseite gegen diejenigen, die bewusst den Hass auf Fremde schüren.
Dacia Maraini: „Ein halber Löffel Reis“. Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Folio, Bozen/Wien 2025, 239 Seiten, 25 Euro
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