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Archiv-Artikel

Ein Elternhaus für die Waisen

GESCHICHTE Walter Frankenstein kehrt zur Stätte seiner Kindheit zurück, wenn heute eine Gedenkinstallation für die von den Nazis ermordeten Kinder des jüdischen Auerbach’schen Waisenhauses in der Schönhauser Allee eingeweiht wird. Von den meisten weiß man nur Namen und Alter

VON KLAUS HILLENBRAND

An diesem Donnerstag um 12.00 Uhr mittags wird Walter Frankenstein an den Ort seiner Kindheit zurückkehren: Berlin-Prenzlauer Berg, Schönhauser Allee 167. Frankenstein, der in den kommenden Tagen seinen 90. Geburtstag feiert und nicht mehr gut sehen kann, wird mit seinem Blindenstock die Hofeinfahrt des modernen Vorderhauses durchschreiten und dann haltmachen. Links, angelehnt an eine Brandmauer, steht da eine unscheinbare rötliche Backsteinwand, nach oben abgegrenzt durch Dachschindeln und kleine Türmchen, nur drei, vier Meter hoch. Diese Wand ist der letzte Rest einer ungegangenen Welt: der Baruch Auerbach’schen Waisen-Erziehungsanstalt. In dem Heim lebten einmal weit mehr als einhundert jüdische Kinder und ihre Erzieher. 1942 und 1943 hat man sie in den Osten deportiert, nach Riga und Auschwitz, und dort ermordet.

Walter Frankenstein wird am Donnerstag der einzige ehemalige „Auerbacher“, wie sich die Bewohner nannten, sein, der einem besonderen Ereignis beiwohnen wird. Ob er der letzte Überlebende ist, wissen wir nicht. Vielleicht gibt es in Israel oder Australien noch ein oder zwei Menschen, die dort aufgewachsen sind. Es ist keine sensationelle Veranstaltung, die an der roten Backsteinmauer stattfinden wird. Nur eine kleine Installation wird eingeweiht werden. In die Klinkermauer wurden die Namen all der Kinder und Erwachsenen eingraviert, die von den Nationalsozialisten in den Tod geschickt worden sind. Ein Staatssekretär wird sprechen, eine Saxofonistin spielen und Schulkinder werden die Namen der Ermordeten aussprechen. Gedenkroutine, so sollte man meinen.

Für Walter Frankenstein aber geht ein Wunschtraum in Erfüllung, wie er sagt.

Der Junge ist zwölf Jahre alt, als er aus der Kleinstadt Flatow im Westpreußischen mit ihren umgebenden Seen in das riesige steinerne Berlin und zu den Auerbachern kommt. Der Vater ist gestorben. Die Mutter betreibt 1936 einen kleinen Landhandel, immer mehr drangsaliert von den örtlichen Nazis. Die Volksschule in Flatow hat beschlossen, dass für einen jüdischen Jungen dort kein Platz mehr ist. Also nach Berlin, ins Auerbach, und in die jüdische Schule, die sich in einem Flügel der Synagoge in der Rykestraße befindet.

„Hier haben wir gelebt wie auf einer Insel im braunen Meer“, erzählt der agile Rentner. Die Heimleitung sorgt dafür, dass die Kinder von der feindlichen Umgebung möglichst wenig mitbekommen. „Es war wunderbar: Wir hatten Musikabende, es wurde uns vorgelesen und wir bekamen Karten für das jüdische Theater, solange das noch erlaubt war.“ Sie spielen Handball im Hof, lernen Boxen, und abends liest der Erzieher vor dem Einschlafen aus deutschen Klassikern vor oder lässt Grammofonplatten abspielen. Es gibt eine Abteilung für Mädchen und eine für Jungen. Die Kinder übernachten, unterteilt nach Altersgruppen, in großen Schlafsälen.

Die Geschichte des Waisenhauses geht bis auf das Jahr 1833 zurück, als Baruch Auerbach das erste jüdische Waisenhaus in Berlin – damals noch an anderer Stelle – eröffnen konnte. Ein „Elternhaus für die Waisen“ schwebte ihm dabei vor, nicht etwa eine Kinderbewahranstalt. 1897 wurde der moderne Komplex in der Schönhauser Allee bezogen, in dem auch eine öffentliche Synagoge untergebracht war.

Doch mit der Machtübernahme der Nazis 1933 werden die Auerbacher immer mehr Einschränkungen und Verboten unterzogen. In der Pogromnacht im November 1938 bricht eine Horde Nationalsozialisten in das Heim ein, droht damit, das Gebäude abzubrennen. Mit großen Mut gelingt es einer Erzieherin, die Synagoge vor der Zerstörung zu retten. Walter Frankenstein erinnert sich, dass die Nazis dort die ewige Flamme löschten und ausströmendes Gas beinahe eine Explosion auslöste. In der Nacht kletterte er auf das Dach des Gebäudes: „Es brannte überall“, sagt er. Die Nazis sind von der Diskriminierung, Entrechtung und Ausplünderung der Juden zu Mord und Brandschatzung übergegangen.

Danach verlassen immer mehr Kinder das Waisenhaus. Mit Kindertransporten erreichen sie bis zum Kriegsausbruch das rettende Großbritannien. Andere kommen nach Belgien oder in die Niederlande – der Krieg holt sie später ein, und viele von ihnen werden ermordet.

Walter Frankenstein möchte als Kind Architekt werden, doch das ist Juden verboten. Er darf eine Maurerlehre in der Jüdischen Bauschule machen, gedacht als Vorbereitung auf eine Auswanderung. Doch er verpasst seine Rettung.

1941 lernt der Zögling Walter Frankenstein im Waisenhaus seine große Liebe kennen. Es ist die Kinderbetreuerin Leonie Rosner, kaum älter als er, die von den Nazis zusammen mit den gehörlosen Kindern aus der Israelitischen Taubstummen-Anstalt in Weißensee zu den Auerbachern gezwungen wird. Im Herbst verlässt Walter das Heim und besorgt sich eine Wohnung zur Untermiete. Auch Leonie zieht aus. Etwa zur gleichen Zeit, im Oktober, beginnen die Deportationen der Berliner Juden in den Osten.

Jüdische Wohlfahrtseinrichtungen im ganzen Reich werden gezwungen zu schließen. Das Waisenhaus in der Schönhauser Allee nimmt die Kinder auf. Zuletzt werden die Babys eines Berliner jüdischen Säuglingsheims ins Auerbach’sche Waisenhaus verfrachtet. Das Gebäude ist überfüllt: Ende des Jahres 1941 muss der Direktor Kurt Crohn 215 Kinder und 9 Erzieherinnen und Erzieher beherbergen, im Juni 1942 sind es schon 270 Kinder und 30 Pfleger. Crohn selbst wird später von der Gestapo vorgeladen: Er habe 467 Eier „unberechtigt beantragt und verbraucht“. 1943 wird Crohn zusammen mit seiner Familie nach Theresienstadt deportiert. Er stirbt im Alter von 48 Jahren in Auschwitz.

1942 endet die 109 Jahre alte Geschichte des Auerbach’schen Waisenhauses mit dem Mord der Kinder. Sie werden auf Lastwagen verladen, zur Deportationssammelstelle gefahren und dort in die Züge nach dem Osten verladen. Auch die Erzieher werden deportiert. Am 19. Oktober verlässt der „21. Berliner Osttransport“ den Güterbahnhof Moabit. Unter den 959 Insassen befinden sich 56 Kinder aus dem Waisenhaus. Der Zug endet im besetzten Riga, wo alle Kinder sofort erschossen wurden. Gut einen Monat später fährt ein Zug nach Auschwitz, an Bord 66 Auerbacher. Es gibt weitere Transporte: am 5. September und 26. Oktober 1942 nach Riga, und am 2. Januar, 3. März, 19. April und 17. Mai 1943 nach Auschwitz. Keines der deportierten Kinder überlebt.

Die Transportlisten zum Massenmord sind sorgfältig mit der Schreibmaschine ausgefüllt. Da ist „Ascher, Horst, geb. am 19. 5. 37“, Beruf „Kind“, „Cohn, Chanah, geb. am 24. 5. 41“, Beruf „Kind“, Kreimer, Bertha, „2 Jahre“ – deportiert am 29. November 1942 nach Auschwitz. „Rubinstein, Judis, geb. am 19. 5. 39“, Beruf „ohne“, „Aron, Denny, geb. am 4. 10. 40“, Beruf „Kind“, und „Mannheimer, Lane, geb. am 29. 9. 38“, Beruf „Kind“, fuhren am 19. Oktober 1942 nach Riga in den Tod. Die Einträge sind alles, was wir von den Kindern noch wissen.

Das ehemalige Auerbach’sche Waisenhaus, nun im Besitz der Hitlerjugend, wird kurz darauf durch Bomben nahezu restlos zerstört. Die Trümmer verschwinden Anfang der 1950er Jahre – außer der roten Backsteinmauer. Neue Häuser entstehen.

Walter Frankenstein überlebt zusammen mit Leonie und ihren zwei Kleinkindern versteckt in Berlin und Leipzig. Nach dem Krieg verlassen sie Deutschland.

Leonie Frankenstein ist vor einigen Jahren verstorben. Walter hat stets ein gerahmtes Bild seiner Frau dabei, wenn er in Schulklassen oder in Gedenkstätten von seiner Verfolgung erzählt. Er hegt keinen Groll gegen die Deutschen, schon gar nicht gegen die jüngere Generation, will sie „immunisieren“ gegen Vorurteile und Hass. Sie sollen selbstständig denken lernen und Zivilcourage zeigen, wenn es nötig ist, sagt er.

Ganz so, wie er es selbst in den Baruch Auerbach’schen Waisen-Erziehungsanstalt vor 75 Jahren gelernt hat.

■ Klaus Hillenbrand ist Autor von „Nicht mit uns. Das Leben von Leonie und Walter Frankenstein“. Jüdischer Verlag, 2008, 251 Seiten, 19,90 Euro