: Ehre der Männer ...
■ ... und die Scham der Frauen - Ein Gespräch mit dem Autor Salman Rushdie
Was für ein Junge waren Sie? Introvertiert, extrovertiert, sportlich, ein Bücherwurm?
Salman Rushdie: Sportlich würde es wohl nicht treffen. Vermutlich war ich schon ein ziemlicher Bücherwurm, denn wenn andere Kinder sagten, sie wollten Düsenpiloten werden oder Meisterringer, dann sagte ich immer, ich wollte Schriftsteller werden, obwohl ich natürlich überhaupt keine Vorstellung hatte, was das wohl bedeutete, außer daß ich gerne las.
Ihr Großvater war Dichter, Ihr Vater hatte Literatur studiert, ost- und westarabische, persische, westliche, Ihre Mutter hatte den Kopf voller Familiengeschichte...
Ja, es ist komisch, trotzdem hatte ich das Gefühl, daß ich in einem ziemlich philisterhaften Hause aufwuchs. Mein Großvater, der ziemlich unbedeutende Essays auf Urdu schrieb, war schon vor meiner Geburt gestorben. Ich lernte ihn also nie kennen. Mein Vater hatte zwar in Cambridge englische und orientalische Literatur studiert, aber das war schon lange her, und seitdem hatte er das meiste wieder vergessen. Außerdem muß ich eine Geschichte erzählen, eine schreckliche Geschichte, wenn man sie von seinem Vater erzählt, aber ich erzähle sie, weil er tot ist. Er hat eine Bibliothek gekauft, so daß viele der Bücher in unserem Hause von anderen gesammelt worden waren. Er hatte einfach beschlossen, daß er Bücher in den Regalen brauchte. Ich hatte wirklich nicht das Gefühl, in einem intellektuellen Hause zu leben. Es stimmt allerdings, daß meine Mutter eine unglaubliche genealogische Begabung besitzt, nicht nur für unsere eigene Familie, sondern für ganz Bombay und die meisten anderen Städte, man mußte ihr nur irgendeinen Namen nennen, dann erzählte sie, wen seine Mutter geheiratet hatte und wer der Vetter vierten Grades war und welcher schreckliche Skandal sich bei den Großeltern ereignet hatte. Es war phantastisch, man brauchte nur einen Namen zu nennen, dann sprudelten enzyklopädische Geschichten hervor.
Setzte Ihre Familie literarische Erwartungen in Sie?
Nein, als ich meinem Vater mitteilte, ich wollte Schriftsteller werden, sagte er: „Was soll ich meinen Freunden sagen?“ Er war immer sehr enttäuscht von dieser Idee, weil Schriftsteller kein Geld verdienen, und wozu hatte man das ganze Geld in die Erziehung gesteckt, wenn der Sohn dann nicht heimkam und den Familientextilbetrieb übernahm.
Sie wurden ziemlich jung nach England geschickt?
Ja, sie schickten mich zur Schule, als ich noch nicht ganz vierzehn war. Ich muß sagen, daß es mir sehr recht war. England sah in meinem Kopf, im Kopf eines Jungen damals in Bombay, ziemlich angenehm aus.
Wie war England dann in Wirklichkeit?
Ein Ort, dem ich später ziemlich viel Zuneigung entgegenbringen konnte, aber zunächst mal war es sehr kalt. Meine erste Erinnerung an meine Ankunft in England ist, daß ich nicht schlafen konnte, weil so viel Gewicht auf mir lag. Decken. Das war mir nicht vertraut, die Leute hatten damals keine Federbetten. Decken waren mir nicht vertraut. Ich hatte nie darunter geschlafen... Im Winter in Bombay hatte man höchstens eine leichte Decke oder eine sehr leichte Steppdecke, und meistens war es nur ein Laken, aus dem man sich in der Nacht freistrampelte. Also plötzlich Decken, es fühlte sich an wie ein Fels auf der Brust. Ich trat sie also weg und dann fing ich an zu zittern und konnte deshalb nicht schlafen. Ich hatte also die Wahl, nicht zu schlafen vor Kälte und nicht zu schlafen, weil ich unter diesem Gewicht festgenagelt war. Das war also das erste. Mein zweites Problem waren Kragenknöpfe. An der Rugby School mußte man Kragen tragen, die vorne und hinten am Hemd festgeknöpft wurden. So etwas Unmenschliches hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht getragen. Den größten Teil meines Lebens war ich in offenen Hemden herumgelaufen, deshalb hatte ich zuerst große Schwierigkeiten mit diesen Metallstücken, die mich in einer Art langsamer Folter erdrosselten.
Als Sie nach Cambridge kamen, interessierten Sie sich mehr für Theater als für Literatur?
Ich studierte nicht Englisch, sondern Geschichte, und ich glaube, das war auch gut so, obwohl deshalb meine Kenntnisse der englischen Literatur jetzt ziemlich exzentrisch sind, es gibt Bereiche, in denen ich mich sehr gut auskenne, und andere sehr unterentwickelte Bereiche, weil ich nie irgendwie methodisch studierte. Geschichte war mir natürlich sehr nützlich und hat in fast allen meinen Arbeiten eine mehr oder weniger große Bedeutung. Es gibt eine eigenartige Geschichte dazu, die vielleicht nicht bekannt ist, wie ich von einer Episode in der Frühgeschichte des Islam erfuhr, die als Fall der „Satanischen Verse“ bekannt ist. In meinem letzten Jahr in Cambridge, wenn man sich mit speziellen Themen befaßt, wurde eine Vorlesung angeboten über „Mohammed und den Aufstieg des Islam in der Frühperiode des Kalifats“, und ich wählte das, und als ich in meinem letzten Jahr damit anfangen wollte, entdeckte ich, daß nur sehr wenige Studenten sich dafür entschieden hatten, sechs oder sieben, und der Dozent war über dieses kümmerliche Ergebnis so erbost, daß er diese Vorlesung gestrichen hatte und sich weigerte, jemanden als Tutor zu betreuen. Das bedeutete im Grunde natürlich, daß man es nicht studieren konnte, denn wenn niemand die Vorlesungen hielt, konnte einen auch niemand betreuen. Ich ging also zu meinem Studienleiter in King's, eine verblüffend polymorphe Figur namens Arthur Hibbott; weil er ein Alkoholiker war, veröffentlichte er praktisch nichts, aber er wußte alles. Er sagte zu mir, „Hören Sie zu, ich bin kein Spezialist in islamischer Frühgeschichte, aber ich bin Mediävalist, und ich weiß eine ganze Menge darüber, wenn Sie also einverstanden sind, daß ich Sie betreue, dann betreue ich Sie.“ Jedenfalls stolperte ich dann über diesen sogenannten Vorfall der „Satanischen Verse“. Ich war also der einzige Mensch, der jemals in Cambridge diesen Schein gemacht hat, und ich erinnere mich, wie ich über diesen Vorfall stolperte und dachte, das ist eine interessante Geschichte!
Als Sie Cambridge beendet hatten, gingen Sie zurück nach Pakistan. Warum blieben Sie nicht in England?
Ich glaube, ich hatte überhaupt kein Geld, aber ich hatte ein Ticket für den Rückflug, obwohl ich es dann gar nicht benutzt habe, weil ich einen Freund hatte, der in einem Mini Traveller nach Indien fahren wollte. Seine Mutter hatte Angst um ihn und fragte mich, ob ich nicht mit ihm fahren wolle, weil er ums Leben käme, wenn er allein führe. Ich glaube, daß sie im Lichte dessen, was passierte, völlig recht hatte. Teilweise ging ich auch deshalb nach Pakistan zurück, weil ich diese Überlandreise machen wollte, und schließlich blieb ich ziemlich lange im Iran, einem Land, das ich gern mochte, abgesehen von seiner Politik, die schon damals problematisch war, das war noch unter dem Schah. Ich war also schon einmal im Iran und muß deswegen nicht wieder hinfahren...
Ich blieb ein paar Monate in Pakistan. Es erschien mir einfach – damals herrschte eine Militärdiktatur – als ein sehr unangenehmer Ort zum Leben, man konnte überhaupt nichts tun, obwohl es jetzt noch viel schlimmer ist, denn es war zwar eine Militärdiktatur, aber das Land litt doch nicht so unter der sogenannten Islamisierung. Ich glaube, es gab Clubs, die auch am Abend noch offen hatten und in denen man manchmal Menschen beiderlei Geschlechts sehen konnte, wenn auch nicht viele; sie machten sie auch bald darauf zu. Aber für jemanden, der Schriftsteller werden wollte, gab es eine sehr unangenehme Art von Zensur. Eines der Hauptprobleme damit ist, daß man nicht mehr weiß, ob das, was man macht, etwas taugt, denn man kann scheußliches Zeug schreiben – wird es zensiert, wird es dadurch berühmt. Ich schrieb etwas absolut Scheußliches, das zensiert wurde, und ich bekam niemals heraus, warum...
„Midnight's Children“ wirkt auf mich wie ein Roman, den eine starke politische Kraft beseelt – gab es einen öffentlichen oder privaten Vorfall, durch den dieser Roman inspiriert wurde?
Das wäre wohl die Hinrichtung von Bhutto in Pakistan und alles, was damit zusammenhing, was weitaus zwiespältiger war, als man denken sollte. Denn man müßte doch annehmen, daß die Hinrichtung eines demokratisch gewählten weltlichen Politikers in einem Lande ohne jede demokratische Vergangenheit durch einen Militärdiktator eine relativ eindeutige Angelegenheit sein müßte. Das war aber leider nicht der Fall, weil Bhuttos Regierung während seiner Amtszeit mindestens ebenso repressiv und korrupt gewesen war wie die Militärdiktatur, die ihr folgte. Deshalb kann man nicht einfach wie Benazir und ihre Familie heute noch diesen Moment glorifizieren und sentimental betrachten. Das war also bewußt von mir gewähltes politisches Material: die Fiktionalisierung der Geschichte von Zia ul Huk und Bhutto. Das private Ereignis passierte in England, als meine Schwester während der Brixton-Unruhen angegriffen wurde. Das stellte die Verbindung zu einer anderen Geschichte her, die ich damals in der Zeitung gelesen hatte, von einem Asiaten, einem muslimischen Pakistani, der seine Tochter umgebracht hatte, weil er glaubte, sie habe sich entehrt, indem sie mit einem unpassenden nicht-muslimischen Mann davongegangen war. Diese beiden Vorfälle warfen das Thema der Scham und der Ehre auf, denn die Scham war eine Sache, von der meine Schwester und andere Menschen, die rassistischen Angriffen zum Opfer fielen, immer wieder berichteten: Daß sie sich schämten, obwohl sie nichts getan hatten, dessen sie sich schämen mußten. Die Reaktion der Scham war in dieser Situation nicht ungewöhnlich. Und entsprechend bediente sich der Vater, um den Mord an seiner Tochter zu rechtfertigen, die er offensichtlich geliebt hatte, der Sprache der Ehre, und diese Sprache verwendete auch seine Gemeinde, die ihn in gewisser Weise freisprach. Es fiel mir auf, daß an der Ehre etwas Männliches ist und an der Scham etwas Weibliches und daß dies entgegengesetzte Pole der Art waren, wie sich diese Gesellschaft entwickelte. Die Ehre der Männer wurde aufgehoben durch die Scham der Frauen. Es gibt eine Kausalbeziehung zwischen diesen Dingen und der Gewalt.
In der Diskussion ging verloren, daß „Die Satanischen Verse“ ein Roman ist, der ziemlich leidenschaftlich die Schwierigkeiten behandelt, britisch zu sein. Bedauern Sie, daß dieses Element in der Debatte ziemlich unterging?
Das war der eigentliche Grund, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte diese zwei Romane über Indien und Pakistan geschrieben – und eigentlich gefällt es mir nicht, wenn Leute sagen, „Midnight's Children“ handele von Indien und „Shame“ von Pakistan, weil in Wirklichkeit ein großer Teil von „Midnight's Children“ von Pakistan und Bangladesch handelt und in „Shame“ ein großer Teil von Indien. Nach diesen beiden Büchern also dachte ich, es sei nun an der Zeit, daß mein Schreiben die gleiche Richtung einschlüge wie ich selbst, und weil die zentrale Erfahrung meines Lebens die Folgen der Emigration war, sollte ich einen Roman darüber schreiben, und offensichtlich hat die Auswanderung zur Folge, daß jeder Aspekt des Lebens infrage gestellt wird, und genau das sollte der Roman leisten. Buchstäblich alles wird infrage gestellt, die Kultur, die man mitbringt, das Glaubenssystem und die ganze Persönlichkeit. Ich weiß nicht mehr, ob es in dem Buch steht oder nicht: Die Wurzeln des Ich liegen an dem Ort, von dem man kommt, in der Sprache, die man spricht, in den Menschen, die man kennt, und in den Sitten, mit denen man aufwächst. Wenn man emigriert, verliert man alle diese Wurzeln, und man ist plötzlich gezwungen, neue Wurzeln für das Selbstbild zu finden. Soziologisch und politisch ist das häufig eine negative Erfahrung, etwas Problematisches und Schwächendes für eine Gemeinschaft und für das Individuum. Man könnte doch wenigstens die gegenteilige Möglichkeit prüfen: daß es auf alle möglichen Arten produktiv sein kann. Aber natürlich wollte ich nicht aus den Augen verlieren, daß es häufig ein schreckliches Problem ist. Deshalb handelt der Roman von diesen Dingen. Wenn wir darüber sprechen, was Menschen mit bestimmten Einstellungen erleben, wenn sie in eine Kultur mit anderen Einstellungen kommen, müssen wir auch darüber sprechen, was mit dem Glaubenssystem passiert, im Roman eben dem Islam, weil ich davon am meisten weiß. Es hätte genausogut auch der Hinduismus oder sonst etwas sein können. Das wollte ich mit der Skepsis und der Kritik behandeln, der es in der neuen Situation begegnen würde. Natürlich war mir ziemlich klar, daß das nicht gerade ein gottesfürchtiges Unternehmen war.
„Osten, Westen“, die Geschichten, die nun bei Kindler erscheinen, worum geht es da?
Die Ost-Geschichten sind in einer Art Fabelform geschrieben, vor allem im Falle von „Das Haar des Propheten“. Viele Kritiker haben sie, was mich überrascht, mit A.K. Narayan verglichen, einem Schriftsteller, dem ich mich nicht sehr ähnlich fühle – daß die Leute hier ein Echo finden, ist sehr schmeichelhaft. Ich halte ihn für einen großartigen Schriftsteller, ich hatte bloß nie zuvor gedacht, daß wir in die gleiche Schublade gehören könnten. Die mittleren Geschichten waren wohl wirklich ein Versuch, mit westlichen Kulturikonen zu spielen, sie auseinanderzunehmen und anders wieder zusammenzusetzen, einschließlich der unglaublichen Majestätsbeleidigung, eine Hamlet-Szene schreiben zu wollen, wenn auch nur eine Komödienszene. An die Tragödienszenen wagte ich mich nicht heran, aber ich konnte den Narren behandeln. Ich dachte, Yorick verdiene eine Szene, der arme Kerl ist doch bloß ein Schädel. Alles, was wir über die Beziehung zwischen Yorick und Hamlet wissen, gründet sich auf Hamlets Beschreibung, und mir kam der Gedanke, daß Hamlets Beschreibung, wie er auf Yoricks Schultern ritt und so weiter, für den Prinzen vielleicht ein großer Spaß war, aber für Yorick war es vielleicht nicht ganz so spaßig. Mir fiel auf, daß Yorick den Prinzen vielleicht durchaus als einen Quälgeist empfunden haben mochte. Die Geschichte ging von diesem Punkt aus, und genauso – wenn wir über eine Neuinterpretation von Ikonen sprechen, dann war Christoph Columbus in letzter Zeit eine ziemlich problematische Ikone. Ich dachte jedoch, daß Columbus an Isabellas Hof eine Art Einwanderer war, er kam als Einwanderer hin, als Bittsteller, der nach Arbeit suchte, und das gab mir einen Bezugspunkt zu ihm, eine sympathische Art von Beziehung, die nichts mit Columbus dem Imperialisten zu tun hatte oder Columbus dem großen Reisenden oder was auch immer, sondern einfach mit diesem Kerl, der tanzen muß, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Und Ihr neuer Roman? (Er erscheint bei Kindler auf deutsch im September 1995.)
Er heißt „Des Mauren letzter Seufzer“, ein Titel, der manche Leute an Granada und das Ende des arabischen Spanien denken lassen wird. Der Roman handelt nicht davon, obwohl er sich darauf bezieht. Der letzte Sultan von Granada, im Westen als Bul Abdil bekannt, hatte die Schlüssel der Alhambra, einer Festung des Islam, an Ferdinand und Isabella übergeben und durfte nach Andalusien ins Exil gehen. Der Legende nach soll er mit seiner grimmigen Mutter auf dem Berg angehalten haben, von dem aus er die Alhambra zum letzten Mal sehen konnte, und dort weinte oder seufzte er, euphemistisch gesprochen, woraufhin seine Mutter sagte: „Es steht dir gut an, wie eine Frau zu weinen, da du sie nicht verteidigen konntest wie ein Mann“, was natürlich das genaue Gegenteil bedeutet, nämlich: Was bist du doch für ein kümmerlicher Schwächling; wäre es nach mir gegangen, hätte ich nicht so leicht aufgegeben... Diese berühmte Geschichte, berühmt jedenfalls in der spanischen Kultur, ist bekannt als „ultimo sospiro del moro“, des Mauren letzter Seufzer. Der Ort, wo das geschah, heißt immer noch Ultimo sospiro und ist nur durch eine Tankstelle gekennzeichnet. Diese Geschichte des Bruchs einer Zivilisation ist einer der großen Angelpunkte der Weltkultur, der Augenblick, in dem die gemeinsame Kultur der Araber, Juden und Christen unterging. Es wird nichts sentimentalisiert... Sie lebten nicht in Frieden miteinander, die Araber herrschten wie in einem absoluten Staat, und alle anderen wurden zum Glaubenswechsel gezwungen, aber es gab Kulturelemente, die ineinander übergingen, und darauf kommt es an. Das ist die wahre Geschichte, aber die Geschichte meines Romans hat mit Indien zu tun, nicht mit Spanien.
Es ist die Geschichte einer Dynastie von Gewürzhändlern, deren Tochter tatsächlich einen ihrer Angestellten heiratet, einen Lagerverwalter aus einer der sehr kleinen Gemeinden südindischer Juden, von denen viele irgendwann aus Spanien ins Exil gegangen waren, und in seiner Familie gibt es eine Legende, die die Geschichte mit der Vertreibung und dem Fall der Mauren verbindet.
Diese Frau wird in dem Roman zu einer großen Malerin, was mich vor das Problem stellte, die glaubhafte Figur einer wirklich kreativen Künstlerin zu schaffen, die es gar nicht gab. Zum ersten Mal habe ich versucht, in einem Buch eine Künstlerin zu schaffen und die Existenz einer Malerin glauben zu machen, die es gar nicht gab, die aber in die Kunstgeschichte paßt und deren Bilder vielleicht interessant zu betrachten wären; das war eine der größeren technischen Schwierigkeiten des Buches. Sie malt obsessiv die Geschichte vom Fall Granadas, aber sie verwandelt sie in eine Metapher für Indien, das heißt für ein Indien, das ebenfalls auseinanderbrach, in dem die Gemeinschaften sich feindlicher gegenüberstehen.
Wovon „Midnight's Children“ den Anfang beschreibt, findet hier sein Ende: Indien, das 1947 unabhängig wurde, war ein soeben geeintes Land, geeint auf der Grundlage des politischen Internationalismus, wie er sich in der Politik von Nehru und den anderen Führern ausdrückte, ein wirtschaftlich sozialistisches Land, ein protektionistisches Land; kulturell ein sehr entschieden weltliches Land, das von der Vorstellung ausging, wenn man in Indien die Religion in das Gewebe des Staates aufnehme, dann würden die Spaltungsunruhen ständig weitergehen. Um das zu verhindern, mußte man die Religion aus dem Staat austreiben, und die Mehrheit der indischen Bevölkerung mußte akzeptieren, daß der Hinduismus nicht die beherrschende Kraft im Staate werden konnte.
Das war im Grunde das moderne, vorwärtsschauende, progressive Indien meiner Generation, der Generation von „Midnight's Children“, und dieser Idee von Indien waren wir im Grunde alle verpflichtet, und im leidenschaftlichen Glauben daran bin ich aufgewachsen. Mir scheint, unter dem Druck der ökonomischen Liberalisierung und des globalen Sieges des Kapitalismus hat die indische Wirtschaftsstruktur jetzt eine unglaubliche Umwandlung erfahren. Sie ist nicht mehr die sozialistische, protektionistische Wirtschaft, wie sie es noch vor fünf Jahren war.
In gewisser Weise kann man das positiv sehen, in anderer Weise nicht. Sicherlich hat das einen großen Teil der alten indischen Bürokratie beseitigt. In anderer Hinsicht ist natürlich die Theorie, die günstigen Auswirkungen der Liberalisierung würden allmählich von oben nach unten durchsickern, in Indien ebenso gescheitert wie überall sonst auch.
Das erneute Auftreten religiösen Sektierertums bei der dominierenden Gruppe, den Hindus, und in seinem Gefolge auch bei Muslimen und Sikhs, setzt die weltlichen Prinzipien des Staates unter Druck; heute reden die Leute, selbst sogenannte linke Intellektuelle, ganz offen von der Unvermeidlichkeit eines Hindu-Staates, der an die Stelle des weltlichen Staates treten soll, und die Verfassung müsse umgeschrieben werden.
Und dann erleben wir dieses eigenartige Wachstum der Nationalismen, manchmal verbunden mit dem Hinduismus, manchmal rein regionalistisch, ein Echo natürlich auf Geschehnisse in Mitteleuropa. So gewann ich also den Eindruck, das Indien, über das ich mein Leben lang geschrieben hatte, gehe seinem Ende entgegen. Und die Grundlage dieses Endes ist der Inhalt des Romans. Ich hoffe, er wird nicht nur eine Klage, sondern auch so lustig, wie ich ihn nur gestalten konnte.
Das Gespräch führten Caryl Phillips und Peter Böhmer anläßlich der Publikation einer Sammlung von Kurzgeschichten Salman Rushdies im Kindler Verlag: „Osten, Westen“, 224 S., 32 DM.
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