piwik no script img

Eduard von Keyserlings ErzählungenDas Meer, das Meer!

Gescheiterte Selbstmorde, Eheflucht und die Not der Landbevölkerung: Eduard von Keyserlings Texte erscheinen erstmals vollständig.

Die Texte Eduard von Keyserlings werden gerade wiederentdeckt Foto: Konrad Bayer

Ein bisschen hat es gedauert, bis er angekommen ist. Doch der baltische Adlige, der seinen Lebensabend erblindet in München beschloss, gehört heute endlich dorthin, wo man ihn lange Zeit nicht haben wollte: im Literaturkanon. Das macht nichts weiter. Eduard von Keyserlings Texte dürften das unbeschadet überstehen.

Der 1855 im heute lettischen Kurland geborene Schriftsteller, dem sein Kollege Klaus Modick in diesem Jahr, dem 100. Todesjahr von Keyserlings, mit dem Roman „Keyserlings Geheimnis“ ein Denkmal setzte, blieb stets ein bisschen am Rand zurück. Seit einigen Jahren wird sein Werk vermehrt wiederaufgelegt, besonders im Manesse-Verlag erscheinen seine Erzählungen und Romane neu.

Bei Manesse liegt jetzt auch der Band „Landpartie“ vor, der sämtliche Erzählungen von Keyserlings vereint. Darunter sind fünf Texte, vorwiegend frühe Stücke, die zuvor allenfalls in Zeitschriften abgedruckt waren. Sie runden das Bild des Autors nicht bloß ab, sondern geben den Ton vor für das, was später folgen soll. Schon die früheste Erzählung, „Nur zwei Tränen“ aus dem Jahr 1882, ist um ein zentrales Motiv von Keyserlings gebaut: den Blick zurück auf eine Vergangenheit, die unwiederbringlich verloren ist.

Thálatta, Thálatta!

Das Buch

Eduard von Keyserling: „Landpartie. Gesammelte Erzählungen“. Manesse Verlag, Zürich 2018, 744 Seiten, 28 Euro

Der Erzähler erinnert sich in dem kurzen Text an ein Schulerlebnis im Griechischunterricht. Man liest gerade Xenophon, und eine kurze Passage mit dem Ausruf „Thálatta, Thálatta!“ – Das Meer, das Meer! – wird beim Erzähler zum Auslöser für die Erinnerung an ein Sommererlebnis mit tragischem Ausgang. An einen Verlust.

Bei von Keyserling ist die abhanden gekommene Vergangenheit in der Regel die seinerzeit im Schwinden begriffene Welt des Landadels, dem er angehörte. Er selbst lebte seit 1894 längst in München, fern von den Gütern der Familie. Die Ländereien mit ihren Feldern und Gärten und den Häusern mit den in Konventionen erstarrten Menschen darin sind bei ihm aber ganz gegenwärtig. Ein großes Gefühl der Resignation liegt über seinen Figuren, man fügt sich in ein Schicksal oder versucht zaghaft, ihm zu entkommen, das aber oft mit begrenztem Erfolg. Selbst die Selbstmorde gelingen bei seinen Protagonisten meistens nicht.

Da ist die Gräfin Alda in „Das Landhaus“, die ihrer langweiligen Ehe entfliehen möchte, was an der mangelnden Kooperation des Objekts ihrer Begierde scheitert – der Erwählte verlobt sich anderweitig. Die Gräfin nimmt das zum Anlass für einen Ausflug aufs Land, wo sie ihrem Leben ein Ende zu setzen gedenkt.

Maliziös und ironisch

Es sind dann Sätze wie „Auch der Graf setzte sich; sein Gesicht, als sei es froh, nicht mehr lächeln zu müssen, nahm einen ältlichen, grämlichen Ausdruck an“, die dem trägen Elend der Eheleute eine maliziös ironische Note verleihen und eine der Stärken von Keyserlings ausmachen. Zugleich nimmt er, bei aller Distanz und Spötterei, Anteil am Schicksal seiner Figuren. Er lässt sie nicht einfach mit Fassung leiden, sondern gibt in der unbarmherzigen Genauigkeit seines Blicks eine Verbundenheit zu erkennen. Auch um die Nöte der arbeitenden Landbevölkerung wusste er, wie seine Milieubeschreibungen zeigen.

Zugleich geraten die in seiner Welt vermeintlich festgefügten Rollen von Männern und Frauen merklich in Bewegung. Sehr schön zu erleben in der späten Erzählung „Die Feuertaufe“, in der ein paar Militärs gegen Ende des Ersten Weltkriegs in einem verlassenen Haus um einen Kamin sitzen und sich entspannen.

Die Unfähigkeit Gefühle zu zeigen

Ein älterer Major, der seinen jüngeren Kollegen dabei eine „Weibergeschichte“ ankündigt, nutzt die Gelegenheit dann nicht, um ein Kabinettstück seiner Eroberungskunst zum Besten zu geben, sondern berichtet sehr artikuliert von der eigenen Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen oder die anderer zu erwidern. Und wie eine verschmähte Frau ihm schlagend zu verstehen gibt, was sie von seiner Zurückweisung hält.

Sehr häufig passiert bei von Keyserling äußerlich nichts. Auch in längeren Stücken wie „Schwüle Tage“ über einen erotisch ambivalenten Sommeraufenthalt auf dem Land meint man bis kurz vor dem dramatischen Ende, dass die Dinge so vor sich hin plätschern. Von Keyserling schildert das in einer behutsam zupackenden Sprache, deren präzis-leichte Wortwahl die baltischen Landschaften vor dem inneren Auge entstehen und einen die regengetränkte „fette Erde“ fast riechen lässt. Kluge Texte, feine Texte, und paradoxerweise sehr gegenwärtig.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

1 Kommentar

 / 
  • 8G
    86970 (Profil gelöscht)

    Keyserling? Ist das etwa der Keyserling, über dessen schwülstige Prosa sich Tucholsky schon vor ca. 90 Jahren lustig gemacht hat??

    Wenn sowas heute wieder goutiert wird, leben wir offenbar wirklich in skurrilen Zeiten.