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EditorialHat ja supergeklappt

Von unserer Redaktion

Schon blöd, dass sich die Realität immer wieder anders verhält als gedacht. Zum Beispiel beim Wahlrecht: Haben wir nicht in der Schule gelernt, dasjenige der Weimarer Republik sei einer der Totengräber der ersten deutschen Demokratie gewesen? Die Zersplitterung der Parteien habe stabile Regierungsmehrheiten unmöglich gemacht, das habe dann die Extremisten gestärkt, lautete die an Gewissheit grenzende These. Nun aber das: Ausgerechnet die Fünfprozenthürde hat bei der Landtagswahl in Thüringen am vergangenen Sonntag dafür gesorgt, dass die AfD jetzt mehr Sitze im Parlament hat, als es ihrem Stimmenanteil entspricht. Abgesehen davon also, dass die Hürde schon immer undemokratisch ist, kann sie rechten Extremisten helfen.

Auch nicht zielführend ist die These von der Entzauberung durch Regierungsbeteiligung. Jüngst hat sie der Tübinger OB Boris Palmer rausgekramt: Für Thüringen könnte es richtig sein, „die AfD in Verantwortung zu nehmen und zu entzaubern“. Super Idee, Boris.

Auch hier hilft ein Blick in die Geschichte: Die erste Regierungsbeteiligung der NSDAP erfolgte nach der Landtagswahl 1929 in Thüringen, wo die Nazis zunächst nur sechs von 53 Sitzen im Parlament innehatten. Nach längerem Zaudern konnte sich Erwin Baum, der starke Mann des bürgerlichen Lagers, schließlich dazu durchringen, lieber mit Faschisten zu koalieren als mit Sozialdemokraten oder – noch schlimmer! – Kommunisten.

Die NSDAP bekam daraufhin das Innen- und das Bildungsministerium, „säuberte“ die Verwaltung „von den roten Revolutionserscheinungen“ und begann, in Thüringen „das gesamte Schulwesen in den Dienst der Erziehung des Deutschen zum fanatischen Nationalisten zu stellen“, wie Adolf Hitler zufrieden protokollierte. Die Regierung überlebte keine volle Legislaturperiode, aber das Tabu der Regierungsbeteiligung einer faschistischen Partei war gebrochen. Bei der nächsten Thüringer Landtagswahl am 31. Juli 1932 steigerte die NSDAP ihren Stimmenanteil auf 42,5 Prozent und wurde so zur mit weitem Abstand stärksten Kraft – nicht obwohl, sondern weil ihre Absichten bekannt waren.

Korrektur in eigener Sache

Vergangene Woche hatte Kontext Stimmen, die forderten, geflüchtete Straftäter auch nach Afghanistan abzuschieben, als populistisch kritisiert. Dies sei gar nicht möglich, stand im Editorial zu Ausgabe 700, denn dafür bräuchte es eine Vereinbarung mit den Taliban. Das Auswärtige Amt hatte jedoch ausgeschlossen, mit einem „islamistischen Terrorregime“ zu verhandeln. Damit schien der Fall klar – doch die Realität hat unsere Redaktion eines Besseren belehrt: „Es hat keine direkten Gespräche mit den Taliban gegeben“, erklärte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) in Bezug auf eine zwischenzeitlich vollzogene Abschiebung von straffällig gewordenen Geflüchteten nach Afghanistan. Wie der „Spiegel“ berichtet, habe die Bundesregierung stattdessen im Emirat Katar um „diskrete Schützenhilfe“ für die Umsetzung gebeten. Diese Option hatte Kontext nicht auf dem Schirm.

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