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■ EditorialDer Abstumpfung entgegenwirken

Unter den Augen der Weltöffentlichkeit werden eine Flugstunde von Deutschland entfernt ganze Städte ausgehungert. Ob Sarajevo, Mostar, Goražde, Srebrenica, Zepa mit Nahrungsmitteln versorgt werden oder nicht, entscheiden Kriegsverbrecher, die seit über einem Jahr regelmäßig zum Genfer Verhandlungstisch geladen werden. Das Schicksal von über 2,7 Millionen Menschen, die auf humanitäre Hilfe dringend angewiesen sind, hängt vom politischen und militärischen Kalkül einiger weniger Männer ab. Allein in Sarajevo, das seit 20 Monaten belagert wird, sind bereits über 10.000 Menschen gestorben, darunter 2.000 Kinder. Es ist, auf hiesige Verhältnisse hochgerechnet, als ob in nicht einmal zwei Jahren in Berlin 100.000 Menschen getötet worden wären. In der bosnischen Hauptstadt gibt es kaum noch Heizmaterial, und der zweite Kriegswinter hat erst begonnen. Im Ostteil Mostars sieht es noch schlimmer aus. Seit die weltberühmte Brücke in die Fluten der Neretva geschossen wurde, können die 50.000 dort eingeschlossenen Muslime nicht mehr zur Frischwasserquelle ans Westufer und trinken nun das Wasser, das sie eben aus dem Fluß schöpfen. Am allerschlimmsten sieht es wohl in Goražde, Srebrenica und Zepa aus. Doch die Bilder bleiben uns erspart. Seit Monaten ist kaum mehr ein Journalist in diese Städte gelangt, die fast ausschließlich von abgeworfenen Hilfspaketen leben.

Es ist viel geredet und geschrieben worden über die Ursachen des Krieges auf dem Balkan, in dem Zehntausende Frauen vergewaltigt, über 200.000 Menschen getötet und an die drei Millionen in die Flucht getrieben wurden. Und auch über Verantwortung und Schuld ist lang und breit diskutiert worden. Wer heute noch behauptet, er verstehe diesen Krieg nicht, der will ihn nicht verstehen. Zur Erinnerung: Die Kamarilla um den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević hat, um im zerfallenden Jugoslawien ihre politischen Pfründe zu retten, skrupellos auf einen großserbischen Nationalismus gesetzt und zunächst Kroatien, dann Bosnien-Herzegowina mit Krieg überzogen. Der kroatische Präsident Franjo Tudjman hatte es durch seine nationalistische, die serbische Minderheit im eigenen Land ausgrenzende Politik seinem Widersacher in Belgrad erleichtert, den Aggressionskrieg als Bürgerkrieg zu camouflieren. Und heute beteiligt sich Tudjmans Regime direkt am Beutezug in Bosnien-Herzegowina. Es gewährt den Milizen der bosnischen Kroaten, die gegen die Regierungstruppen der international anerkannten Republik Krieg führen und dabei vor Massakern so wenig zurückschrecken wie die Serben, militärische Unterstützung.

Die Muslime werden von zwei – im strategischen Ziel der Schaffung ethnisch homogener Gebiete verbündeten – Armeen mit Vertreibung, Ausrottung oder Aushungerung bedroht. Immer wieder werden in jüngster Zeit auch Kriegsverbrechen der – formal zwar noch trinationalen, faktisch aber schon weitgehend muslimischen – bosnischen Armee registriert. In der Tat: Mord und Massaker, Vergewaltigung und Vertreibung gibt es heute auf allen Seiten, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Die Fähigkeit, zu töten, zu vergewaltigen und zu foltern, ist wohl bei den allermeisten Völkern vorhanden. Von den Deutschen weiß man es. An die Franzosen in Algerien oder an die Amerikaner in Vietnam denkt man kaum mehr. Nein, es gibt nicht die guten Muslime und die bösen Serben. Es gibt aber die Umstände, unter denen sie töten, vergewaltigen, vertreiben, und es gibt – auch wenn dies aus der Sicht der Getöteten, Vergewaltigten und Vertriebenen belanglos sein mag – die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten. Man wird ja auch nicht die nationalsozialistische Eroberungs- und Vertreibungspolitik in Mittelosteuropa mit ihren Folgen, den Massenvertreibungen von Sudeten und Schlesiern, gleichsetzen wollen.

Bis zu diesem Herbst hat der bosnische Präsident Alija Izetbegović, gleichzeitig Vorsitzender der muslimischen Partei SDA, geradezu verzweifelt an der Konzeption eines multikulturellen, multiethnischen, multikonfessionellen Staats festgehalten. Mit guten Gründen. Die zunächst von den Serben, dann von den Kroaten geforderte und schließlich von den internationalen Vermittlern gegenüber den Muslimen faktisch durchgesetzten Dreiteilung der Republik nach ethnischen Kriterien ist fatal. Die serbische und die kroatische Teilrepublik werden sich nach einer Schamfrist ihren Mutterländern anschließen. Den Muslimen, bei Kriegsausbruch zahlenmäßig größte Nation der Republik, wird ein kleines Rumpfbosnien bleiben. Und nach der Dreiteilung wird dann wohl der Austausch der verbliebenen Reste „fremder“ Minderheiten abgewickelt. Damit wäre möglicherweise ein vorläufiges Ende des Krieges in Bosnien-Herzegowina besiegelt, aber gleichzeitig der Samen für neuen Terror und Krieg gesät – innerhalb und außerhalb der Grenzen des früheren Jugoslawien.

Im August des vergangenen Jahres haben die EG und die UNO auf ihrer gemeinsamen Londoner Jugoslawien-Konferenz feierlich verkündet, militärisch geschaffene Grenzen würden niemals akzeptiert. Die EG beauftragte Lord Owen, in ihrem Namen einen Frieden auf dem Balkan auszuhandeln. Im Sommer dieses Jahres gestand der Brite öffentlich das Scheitern seiner Politik ein – und machte trotzdem weiter. Statt auf der Integrität Bosnien-Herzegowinas zu bestehen, drängte er nun, allen hehren Grundsätzen der Londoner Konferenz und dem expliziten Mandat seiner Auftraggeber zum Trotz, auf eine Dreiteilung der Republik – ohne daß irgendein EG- Regierungschef seine Abberufung gefordert hätte.

Zum diplomatischen Debakel der Europäischen Union kommt das militärische der UNO. Da wurden Sarajevo, Goražde, Zepa und Srebrenica im Frühling zu Sicherheitszonen erklärt, ohne daß die Menschen in diesen Städten seither je sicherer gelebt hätten. Ein Jahr lang drohte (oder versprach) der „Westen“ immer wieder, militärisch zu intervenieren, um die Versorgung der notleidenden Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern sicherzustellen. Nichts ist geschehen, und es wird wohl nichts geschehen. Alles scheint darauf hinzudeuten, daß das dringendste Anliegen der sogenannten Friedensvermittler darin besteht, drei Unterschriften unter irgendein Dokument zu bekommen, das es dem „Westen“ erlaubt, sich aus dem Balkan wieder zu verabschieden. Und bis es so weit ist, wird man es weiterhin dem Kalkül der Kriegsherren anheimstellen, zu entscheiden, ob die Menschen in Sarajevo, Vitez, Goražde, Vares, Srebrenica, Zepa überleben oder verhungern sollen.

Doch es geht in der heutigen Sonderausgabe der taz nicht darum, das Für und Wider einer militärischen Intervention zu debattieren. Wir wollen vor allem Menschen aus der betroffenen Region selbst zu Wort kommen lassen, in der Hoffnung, die Abstumpfung aufzubrechen, die die tägliche Berichterstattung über die täglichen Greuel vielleicht zwangsläufig mit sich bringt. Wenn das gelingt, hat diese Ausgabe ihre Funktion schon fast erfüllt. Zur konkreten Hilfeleistung ist dann nur noch ein kleiner Schritt. Wir erleichtern ihn, indem wir über 16 Seiten hinweg 110 Initiativen kurz vorstellen, die sich in Bosnien-Herzegowina und in Deutschland für die Opfer dieses Krieges engagieren. Wir bedanken uns bei allen, die uns Material über ihre Arbeit zugesandt haben und entschuldigen uns bei den wenigen Initiativen, die wir aus Platzgründen nicht berücksichtigen konnten. Thomas Schmid

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