■ Editorial: Sehnsüchte in einer entzauberten Welt
Die Zeit der politischen Ideologien scheint vorbei. Nach dem Verlust der Utopien gewinnen auf der Suche nach Orientierungen Religionen und esoterisch verklärte Heilserwartungen an Bedeutung. Der Boom der Esoterik spiegelt die Sehnsüchte in einer entzauberten Welt: die Sehnsucht nach Gemeinschaft, einem neuen Verhältnis zur Natur, nach einem Ende der einst von Georg Lukaćs beklagten transzendentale Obdachlosigkeit.
Auch die Anthroposophie gewinnt in diesem Zusammenhang an Bedeutung. Grund genug, das Thema in der taz aufzugreifen. Etwa 20.000 Mitglieder hat die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland, rund 50.000 sind es weltweit. Auf mehr als 150 Waldorfschulen werden Kinder hierzulande nach der Steinerschen Pädagogik unterrichtet. Seit 1970 hat sich ihre Zahl fast verfünffacht, auch in Ostdeutschland nimmt sie zu.
Jenseits der positiven Seiten werden in der letzten Zeit auch rechte Tendenzen in der anthroposophischen Bewegung sowie in der Esoterik- Szene diskutiert. Bis vor kurzem war nur wenig über diese Entwicklung, auch über die Rolle der Anthroposophen in der Nazizeit, bekannt. Lange waren sie mehrheitlich von ihrer Immunität gegen den Nationalsozialismus überzeugt. Ernst Bloch dagegen sah das 1934 anders: „Offenbar verhindert nur der starke Anteil anderer Länder an der anthroposophischen Bewegung, daß diese geschlossen zu Hitler übergeht.“ Seit 1991 haben sich linksorientierte Anthroposophen um den 42jährigen Arfst Wagner der Aufarbeitung gestellt. Seitdem wird auch unter Anthroposophen darüber kontrovers diskutiert. Verständlich, denn vorschnelle Pauschalisierungen sind fehl am Platz. Ein Thema, das verdient, Schwerpunkt dieser Anthroposophiebeilage zu sein. adi
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