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EUROFACETTENGebeutelte Grenzgänger

■ Wer heute schon in Europa pendelt, muß draufzahlen

Um es gleich vorwegzunehmen: Das Europa der Bürger, von Jacques Delors in die Welt gesetzt, ist ein Begriff geblieben. Täglich erfahren zweihundertfünfzig- bis dreihunderttausend Europäer, wie weit man vom Ideal noch entfernt ist. Für diese Menschen, die Wohnsitz und Arbeitsplatz in zwei verschiedenen Ländern haben, gibt es verschiedene Bezeichnungen: Grenzgänger, Pendler oder Wanderarbeitnehmer. Dabei übersieht man leicht, daß bei den meisten Grenzgängern noch zwei oder drei Personen dazukommen, die von ihnen wirtschaftlich abhängig sind. Was diesen Menschen im Grenzland alles passieren kann, ist schier unglaublich. Wie in einem Brennglas läßt sich dies im Dreiländereck Deutschland/Belgien/Niederlande bei Aachen beobachten: Grenzgänger zahlen in fast allen Fällen höhere Steuern als ihre Kollegen oder Nachbarn. Rentner, die eine Rente aus dem Nachbarland erhalten, haben Nachteile bei der Krankenversicherung. Wer arbeitslos wird, muß oft mit erheblich niedrigerem Arbeitslosengeld rechnen. Oft kann es auch zu einem Streit der Ämter über die Zuständigkeit kommen. Kindergeld bekommt längst nicht jeder, besonders sozial Schwache sind in Gefahr, von keinem der beteiligten Staaten etwas zu erhalten. Wegen der Bedingungen für die Krankenversicherungen ist die freie Arztwahl stark eingeschränkt. Im Wohnsitzland sollte man nur im absoluten Notfall den Arzt aufsuchen. Der Notfallrettungsdienst darf nicht in das im Notfall oft näher gelegene Krankenhaus auf der anderen Seite der Grenze fahren. Auch die Feuerwehr darf nicht ohne weiteres jenseits der Grenze löschen.

Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Die Staatsgrenze der unterschiedlichen Systeme, Gesetze und Verordnungen kann rasiermesserscharf sein. Und diese Schärfe wird sich auch mit dem Binnenmarkt nicht verlieren. Denn die genannten Probleme sind nicht Bestandteil des Harmonisierungskatalogs der EG-Kommission. Um diese Bereiche anzugleichen, wären große Umwälzungen in der Sozialversicherung nötig. Revidiert werden muß vor allem die entsprechende EG-Verordnung 14/08 von 1971, die die Sozialversicherungsansprüche regelt. Sie wurde gemacht für Menschen, die Wohnsitz und Arbeitsplatz in ein anderes Land verlegen. Dies aber kommt bei weitem nicht so oft vor wie die Situation der Grenzgänger. Zur Zeit macht es tatsächlich weniger Probleme, von Paris nach Berlin zu ziehen, als in Aachen zu arbeiten und zwei Kilometer weiter in Belgien zu wohnen. Peter Boltersdorf

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