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EUROFACETTENWende total

■ Der Kollaps der Sozialdemokratie — einzige Chance

Zum Zeitpunkt, da der Sozialismus am dringlichsten wäre, ist er nirgends erhältlich, am wenigsten in den sozialistischen (sozialdemokratischen, kommunistischen) Parteien. Sozialdemokratie und Kommunismus sind grundverschieden, in diesem Punkt aber eineiige Zwillinge: Sie sterben gleichzeitig.

Es gibt afrikanische Termiten, die höhlen Holzhäuser völlig aus. Lehnt sich jemand an ein solches Haus, bricht es zusammen. An das ost-sozialistische Haus hat sich schon jemand (das Volk) drangelehnt, es ist eingestürzt. Der West-Sozialismus steht noch da, hohl.

Wende total. Jetzt gilt es für brave Sozialisten, die Wände hinaufzuklettern, aus Wut und Verzweiflung. Soeben ist das schwedische Erfolgsmodell aus den Latschen gekippt. Sozialdemokratie ist das Mißverständnis, man müsse nur in den Kapitalismus recht viel Sozialstaat hineinrühren. Es reicht nicht.

Mitterrand und Gonzalez tragen das Aschekreuz auf der Stirn. Der Österreicher Vranitzky bestieg neulich den Großglockner (3797 m), aber auch das wird nicht reichen. Sein christdemokratischer Koalitionspartner wird bei erster Gelegenheit zur wachsenden FPÖ des Populisten Haider wechseln. Die Genossen Kinnock und Engholm scharren in den Startlöchern, aber laufe mal einer mit der Riesenleiche des Sozialismus auf dem Buckel herum. Für uns, liebe GenossInnen, ist Stunde Null, Geisterstunde, in der aber kein Gespenst mehr umgeht, nicht einmal ein kleiner Kobold.

Die Stunde Null ist unsere Chance — die einzige, die der Sozialismus noch hat. Mausetot ist der Staats- und Industriesozialismus. Auferstehen wird der Sozialismus im Wortsinn: Gemeinschaft, Gemeinde, selbstregierende, selbstwirtschaftende kleine Einheiten, vernetzt, konföderiert.

Auf der Tagesordnung ist jetzt nicht sozialistische Praxis oder gar sozialistische Theorie, sondern das, was Musil „phantastische Genauigkeit“ nennt: „Mich interessieren nicht die realen Ursachen der realen Ereignisse. Mein Gedächtnis ist schlecht. Die Tatsachen sind überdies immer vertauschbar. Mich interessiert das geistig Typische, ich möchte sogar sagen: das Gespenstische an den Begebenheiten.“ Günther Nenning

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