EUROFACETTEN: Fatal, jetzt alt zu werden
■ Die EG-Seniorenpolitik verkommt zum politischen Ritual
Im Jahr 2020 wird ein Viertel der EG-Bevölkerung über sechzig Jahre alt sein — in Deutschland sogar fast 30 Prozent. Zur Zeit läuft das EG-Aktionsprogramm zugunsten älterer Menschen. Höhepunkt dieser mit geringsten Finanzmitteln ausgerichteten Kampagne ist das für 1993 ausgerufene „Jahr der älteren Menschen und der Generationensolidarität“. Wie für alle EG-Politik- Bereiche der „sozialen Dimension“ gilt auch hier: Permanente und noch erheblich zunehmende soziale Probleme, die in Brüssel keine Lobby haben, werden bloß noch symbolisch behandelt. Die wenigen ECU für das Seniorenprogramm fließen denjenigen zu, die ohnehin schon kräftig vom Sozialstaat profitieren: Kongresse dienstreisegeiler Funktionäre, Gefälligkeitsgutachten aus dem Speckgürtel der EG-Forschungsklientel und dazu noch die Phrasendrescherei in den Zwölf-Sterne-Hochglanzbroschüren. Aktivität wird bloß vorgetäuscht. Die EG-Kommission hat sich dafür ein geniales Strickmuster ausgearbeitet.
Für die Senioren, Alten, Behinderten und all die anderen, die mit dem Tempo der wiederauferstandenen frühkapitalistischen Leistungsgesellschaft nicht mithalten können, wird sich damit überhaupt nichts ändern. In einer Zeit, in der die Übersollerfüllung im Arbeitsleben wieder zur zynisch eingetriebenen Tugend wird, qualifiziert das Alter nur noch zum gerade geduldeten Schattendasein. Von Solidarität zu sprechen ist sprachpolitisch beinahe verboten. Sozialpolitik wird der Industriepolitik untergeordnet. Almosen können im Haus der EG nicht länger verteilt werden; Ost- und Südeuropa klopfen immer stärker an die Wohlstandspforte. Der soziale Preis, der für das EG-Oberziel „Weltmarktkonkurrenzfähigkeit“ gezahlt wird, ist hoch. Die Menschen benötigen nun einmal den Glücksersatz des materiellen Wohlstands, da die meisten traditionellen Wertemuster obsolet geworden sind.
Alt ist man, wenn man nicht mehr dazulernt. Lernen wird jedoch nur noch auf die Anpassungsfähigkeit an die Erfordernisse des Erwerbslebens ausgerichtet. Soziales Lernen — mit tollen Hoffnungen in den siebziger Jahren entwickelt und in den Achtzigern zaghaft gelebt — ist perdu. Statt dessen entlarven sich Intriganten- und Denunziantentum, blinde Anpasserei und Unterwürfigkeit (ein böses Erbe der DDR und vorausgegangener totalitärer Regime) immer unverfrorener. Wer jetzt kein solides Haus materiellen und persönlichen Reichtums hat, baut sich keins mehr. Die soziale Katastrophe läßt das Klima auf absehbare Zukunft kälter werden. Fatal für alle, die alt werden. Ganz abgesehen von denjenigen, die es jetzt schon sind. Richard Rich, Brüssel
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