EU verabschiedet Klimakompromiss: Energiefresser werden geschont
Offiziell hält Europa an seinen Klimazielen fest - und verabschiedet Ausnahmen für energieintensive Industrien und osteuropäische Kraftwerke.
BRÜSSEL taz Am Ende sind wieder alle wahnsinnig zufrieden. Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht die Klimaziele gerettet. Der britische Premier Gordon Brown entdeckt seine europäische Seite und lobt, dass in der EU alle an einem Strang ziehen. Und glaubt man dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, dann hat er im letzten Halbjahr Europa neu erfunden und das ökologische Jahrtausend eingeläutet. Alle trompeten gemeinsam im Chor, an den im März 2007 vereinbarten Klimazielen sei nicht gerüttelt worden.
Mit dem am Freitag beschlossenen Klimapaket soll der Treibhausgasausstoß der Europäischen Union bis 2020 um 20 Prozent unter das Niveau von 1990 gedrückt werden. Der Preis für den Kompromiss zwischen den EU-Staaten sind milliardenschwere Transferleistungen von West- nach Osteuropa. Davon profitieren besonders die veralteten Kohlekraftwerke in Polen und anderen osteuropäischen Ländern, die besonders viel Kohlendioxid (CO2) ausstoßen. Die Osteuropäer erhalten 12 Prozent der Verschmutzungszertifikate als "Solidaritätsbonus". Nach Warschauer Berechnungen entspricht das allein für Polen einem Zuschuss von 15 Milliarden Euro.
Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel konnte im Gegenzug Ausnahmen für die Schwerindustrie durchsetzen. Energieintensive Branchen wie Stahl-, Chemie oder Zementfabriken - also nahezu die gesamte produzierende Industrie - sollen ihre Verschmutzungszertifikate weiter gratis erhalten, sofern sie moderne technische Standards erfüllen.
Außerdem kann ein großer Teil der von der EU versprochenen Treibhausgasreduzierung nach den Beschlüssen des Gipfels am Freitag in Entwicklungsländer ausgelagert werden. Europäische Investitionen in Klimaschutzprojekte dort werden auf die EU-Ziele angerechnet. Die Vereinbarungen zum Klimaschutz sehen vor, dass die 27 EU-Staaten jährlich 3 bis 4 Prozent ihrer Einsparungen außerhalb der Gemeinschaft erbringen können. Bezogen auf den Zeitraum bis 2020 bedeutet dies, dass mindestens die Hälfte der versprochenen Treibhausgasreduktion in Entwicklungsländern erfolgen kann.(RTR, AP, TAZ)
Die Wirklichkeit sieht etwas anders aus. Denn ob sich die EU-Klimaziele mit dem Paket verwirklichen lassen, sehen Experten skeptisch - und damit auch die Rolle Merkels beim EU-Gipfel in Brüssel, die sich dort massiv für deutsche Industrieinteressen einsetzte.
Zwar verpflichten sich alle 27 Mitgliedsstaaten, bis 2020 zwanzig Prozent CO2 einzusparen und den Anteil erneuerbarer Energien auf zwanzig Prozent zu steigern. Doch ein Blick aufs Kleingedruckte macht klar, dass fast alle ergänzenden Forderungen von Umweltverbänden und Umweltpolitikern nicht erfüllt worden sind. Ursprünglich wollte die EU den Emissionshandel ab 2013 sehr viel strenger regeln. Nun wird der Löwenanteil der jährlich nötigen Verschmutzungsrechte auch nach 2013 gratis ausgegeben. Damit sinkt der Anreiz, auf saubere Technologien umzustellen. Und die Staaten bekommen weniger Geld in die Kasse, um den ökologischen Wandel zu fördern. Von einem schwarzen Tag für die Klimapolitik sprachen Greenpeace, der WWF und Oxfam.
Mindestens die Hälfte der CO2-Einsparungen in den Bereichen, die nicht dem Emissionshandel unterliegen, dürfen außerhalb der EU erbracht werden. Kritiker fürchten, dass derartige Projekte schwer zu kontrollieren sind. Der grüne EU-Abgeordnete Claude Turmes aus Luxemburg sagt dazu lakonisch: "Wenn das in den internationalen Verhandlungen die anderen Länder nachmachen, wo fördern wir dann all diese grünen Projekte außerhalb unserer eigenen Länder? Auf dem Mars?"
Turmes erklärte, 96 Prozent der produzierenden Industrie bekämen nun die Verschmutzungsrechte bis 2020 umsonst zugeteilt. Das hätten seine Experten ausgerechnet. Zu diesem Zeitpunkt hatte er die letzte Kompromissversion noch nicht gesehen. Sie besagt, dass neue Kraftwerke in Westeuropa mit bis zu 15 Prozent aus Erlösen des Emissionshandels subventioniert werden dürfen. "Wenn das wirklich beschlossen wurde, ist es für die Klimapolitik ein Desaster", sagte Turmes ungläubig. Wenig später konnte er sich mit eigenen Augen überzeugen. Angela Merkel hatte sich auch in diesem Punkt durchgesetzt. Sie wollte einen Ausgleich dafür, dass die Osteuropäer für ihre alten Kohlekraftwerke die Emissionsrechte "übergangsweise" gratis erhalten. Außerdem bekommen sie bis 2020 einen Solidaritätszuschlag von 12 Prozent aller jährlich auf den Markt kommenden Verschmutzungsrechte. Die übrigen 88 Prozent werden an die Mitgliedsstaaten verteilt, damit sie sie an die Betriebe verkaufen können.
Merkel hatte ursprünglich darauf bestanden, es dürfe nur entweder den Emissionssoli oder die Schonzeit für Kraftwerke geben. EU-Ratspräsident Sarkozy hatte die ganze Nacht mit Polen und Ungarn über die Details gestritten. Am Ende begründete er sein Entgegenkommen so: "In Polen leben 38 Millionen Menschen. Ihre Energieversorgung hängt zu 95 Prozent an der Kohle. Wenn diese alten Kohlekraftwerke voll dem Emissionshandel unterworfen wären, würden sich die Energiepreise verdreifachen."
Am Freitagmorgen war Angela Merkel in beschwingter Laune beim Ratsgebäude eingetroffen. Im Gegensatz zu ihren osteuropäischen Amtskollegen hatte sie keine zähen nächtlichen Einzelgespräche mit Sarkozy durchstehen müssen. Doch als sie den großen Sitzungssaal betrat, war es mit der Gelassenheit vorbei. Sarkozy erklärte, der Beginn der Tagung verschiebe sich um ein paar Minuten, und führte Merkel in einen Nebenraum. Dort erklärte er ihr wohl, dass die Osteuropäer auf ihren Forderungen beharren und beides wollen: Solizuschlag und Gratisemissionsrechte für alte Kraftwerke. Im Gegenzug, so argumentierte Merkel, müssten die westeuropäischen Energieerzeuger finanziell entlastet werden. Sonst würde bald kein neues Kohlekraftwerk mehr in Deutschland gebaut und die Energiebranche würde nach Osteuropa abwandern.
Nun werden die Experten ihre Rechenschieber zücken. 30 Milliarden Euro werden im Jahr 2020 aus dem Erlös der Emissionsrechte in die nationalen Haushalte fließen, glaubt ein deutscher Fachmann. Der grüne EU-Abgeordnete Turmes hingegen schätzt, dass es nur ein Bruchteil davon sein wird.
Bisher ist das alles Spekulation. Denn den Marktpreis von einer Tonne CO2 im Jahr 2020 kennt heute noch keiner.
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