EU-KONVENT: VALÉRY GISCARD D‘ESTAING SETZT SICH ZWISCHEN ALLE STÜHLE : Psychologisch ungeschickt
Sonnenkönig Giscard d‘Estaing hat seinem Konvent einen DIN-A 4-Umschlag geschenkt. In dieser altertümlichen Form fanden die 105 Mitglieder des Reformgremiums den ersten Teil der neuen EU-Verfassung auf ihren Tischen vor. Ein feierlicher Moment: Nach monatelangen Debatten, nach Tonnen produzierter Papiere endlich ein Textentwurf, mit dem man konkret arbeiten kann. Eine Woche haben nun die Delegierten Zeit, um Änderungsvorschläge einzureichen. Zwar sind sie nicht auf den Postweg angewiesen, sondern können sich elektronisch rasch über Formulierungen verständigen. Doch für persönliche Treffen ist die Zeit zu knapp.
Auf den ersten Blick fällt die klare, unpathetische Sprache angenehm auf, in der die ersten sechzehn Artikel geschrieben sind. Doch inhaltlich lauern überall Stolpersteine. Der britische Regierungsvertreter verdammte gleich pauschal das ganze Grundrechtekapitel und behauptete, von den Ergebnissen der entsprechenden Arbeitsgruppe finde sich im Text nichts mehr wieder. Das sehen die anderen Euroskeptiker im Konvent ebenso. Der Grüne Johannes Voggenhuber sprach dagegen für diejenigen, die sehr viel weiter gehen wollen bei der Konstruktion der Vereinigten Staaten von Europa. Sie kritisieren den Text als faulen Kompromiss, der in vorauseilendem Gehorsam für die Regierungschefs geschrieben sei. Tatsächlich wird im ersten Artikel der Zweck der Union darauf reduziert, die Politiken der Mitgliedsstaaten zu koordinieren. Die Grundrechtecharta, die viele Konventionalisten ganz vorn in der Verfassung sehen wollen, wird in einen Anhang verbannt.
Mehr wird angesichts der weit auseinander driftenden Meinungen am Ende in dem Verfassungstext nicht zu erreichen sein. Die Frage ist, ob der Sonnenkönig taktisch klug beraten ist, wenn er den kleinsten gemeinsamen Nenner zur Verhandlungsgrundlage macht. Psychologisch geschickter wäre gewesen, mit einem ehrgeizigen Entwurf zu beginnen und den Kompromisstext als Ergebnis einer ausführlichen Plenardebatte zu akzeptieren. Das hätte den Delegierten das Gefühl vermittelt, nicht bloß Statisten in einem Spiel zu sein, das tatsächlich vor allem hinter den Kulissen stattfindet. DANIELA WEINGÄRTNER