ESSEN GEHEN IST DAS NEUE AUSGEHEN : Lieber das nächste Getränk als das Auto stehen lassen
VON CHRISTIANE RÖSINGER
Die Ausgehplanung fürs Wochenende hatte diesmal schon sehr früh begonnen, meine im Lauf der Jahre etwas eingeschlafene Ausgehgruppe hatte beschlossen wieder einmal zusammenzukommen, und das wollte gut geplant sein.
Kinder, Arbeit, Hund hatten die Ausgeheuphorie der Gruppe in letzter Zeit immer mehr sinken lassen. Es hat ja schließlich nicht jeder so viel Zeit und Muße wie die unterbeschäftigte, alleinstehende Songwriterin und Gelegenheitsjournalistin. Nach einem tagelang währenden exzessiven Rundmailwechsel einigte man sich auf „Essen gehen“. Für mich eine völlig neue Erfahrung, denn als latent prekarisierte Songwriterin und Gelegenheitsjournalistin geht man praktisch nie essen, und ich war gespannt darauf, in die Szenegastronomie eingeführt zu werden.
Als mir vor etwa zehn Jahren ein damals vielleicht 35-jähriger Freund erzählte, er gehe ja inzwischen lieber essen statt in Clubs, man sitze beim Italiener so herrlich lange am Tisch, trinke dann einen letzen Grappa nach dem anderen, versuchte ich verzweifelt einen milden Gesichtsausdruck aufzusetzen, damit mein Mienenspiel nicht aufwallende Verachtung und Entsetzen verriet. Aber wahrscheinlich war dieser Bekannte ein Trendsetter. Denn wenige Jahre später baute das Stadtmagazin tip sein Heft mit einem absurd großen Gastroteil zum Restaurantführer um. Inzwischen hat die Gastroisierung des Ausgehlebens so überhand genommen, dass man längst sagen muss „Essen gehen ist das neue Ausgehen“.
Nach langwierigen Mailverhandlungen der Ausgehgruppe fiel die Wahl auf das „Themroc“, das spartanisch eingerichtete Wohnzimmer-Restaurant in der Torstraße. Von der freundlichen Bedienung wurde die Speisekarte – herrlich unkonventionell auf einem DIN-A32-Zettelchen in die Runde gehalten. Wir wählten zügig, es gibt ja immer nur ein Gericht, das Essen war ganz okay, die Unterhaltung angeregt.
Trümmerfrauenschick
An den anderen Tischen saßen Gruppen von jungen Frauen, in einer Art ironischem Nachkriegs-Trümmerfrauenschick gekleidet, der wiederum schön mit der alten Anrichte, den hochgestapelten Tellern und einer Fünfzigerjahre-Küchenwaage korrespondierte.
Der Abend ging in schöner Harmonie zu Ende, aber am nächsten Tag stellte sich wieder die Frage: Wohin? Der kluge Ausgehmensch baut ja vor, und wenn die eine Ausgehgruppe schwächelt, baut er rechtzeitig eine zweite und dritte auf.
Die jüngere, noch etwas ausgehfreudigere Ausgehgruppe machte sich die Wahl per Facebook-Konferenz aber auch nicht leichter. Es warteten so viele Verlockungen: Vindicatrix, die Schubertlieder-interpretierenden Briten im Madam Claude, Kiss bei Wetten dass? und Doctorella im nbi. Aber eine Single-Releaseparty „Lass uns Märchenwesen sein“ gibt es schließlich nicht alle Tage, und so traf man sich und einige andere im nbi, lauschte den sirenenhaften Gesängen und einschmeichelnden Melodien der fabelhaften Schwestern, und freute sich auf die Endstation 8 mm Bar.
Sechs Sekt auf Eis
Aus irgendeinem Grund hatte ich mir vorgenommen, mich mal wieder richtig zu betrinken, das Vorhaben aber zu früh angefangen und zu schnell umgesetzt. So ließ nach fünf oder sechs Sekt auf Eis bereits die Kondition nach und eine unkässmannsche Vernunftanwandlung erfasste mich: Ich dachte daran, dass ich nach dem nächsten Getränk das Auto stehen lassen müsste. Als passionierte Autofahrerin ließ ich lieber das letzte Getränk statt das Auto stehen und verabschiedete mich auf Französisch, was am nächsten Tag in der Gruppennachbesprechung auch als „polnischer“ oder „englischer“ Abgang aufgefasst wurde.