ESSAY: Tibet darf nicht sterben!
■ Zum 32. Jahrestag des tibetischen Volksaufstandes gegen die chinesische Besatzungsmacht
Das tibetische Volk und mit ihm eine der ältesten Hochkulturen der Erde sind vom Tode bedroht. Doch die Welt schweigt dazu seit über vier Jahrzehnten. Nach geltendem internationalen Recht ist Tibet ein unabhängiges Land unter der illegalen, militärischen Fremdherrschaft der Volksrepublik China. So sagt es auch eine Studie des wissenschaftlichen Fachdienstes des Deutschen Bundestages zur völkerrechtlichen Situation Tibets, die wir in Auftrag gaben.
Wir haben oft versucht, das über Tibet gebreitete Schweigen zu brechen; mit jahrelanger, zäher und oft auch frustrierender Bundestagsarbeit, mit außerparlamentarischen Aktivitäten, mit Veröffentlichungen und mit der Unterstützung des Aufbaus vieler regionaler Tibet-Initiativen und mit der Initiierung der ersten internationalen Tibet-Anhörung im April 1989 im Bonner Bundeshaus, einem sehr erfolgreichen Unternehmen, das viel ins Rollen gebracht hat: zum Beispiel zahlreiche Folgeveranstaltungen in New Delhi, London, Kopenhagen, Den Haag und Tokio. Sichtbare Zeichen einer sich langsam verändernden Einstellung der Weltöffentlichkeit zum Tibet-Problem waren nicht zuletzt auch die Verleihung des Friedensnobelpreises 1989 an den aus Tibet vertriebenen Dalai Lama sowie sein Empfang durch den tschechoslowakischen Staatspräsidenten Vaclav Havel im Februar 1990 in Prag und durch Bundespräsident von Weizsäcker im Oktober 1990 in Berlin.
Doch die Lage im seit vier Jahrzehnten besetzten und unterdrückten Tibet ist unverändert kritisch. Denn nach dem Scheitern aller chinesischen Bemühungen, den Freiheitswillen der Tibeter und ihr Streben nach Unabhängigkeit zu brechen, hat China seit 1983 eine neue Politik lanciert, die das Tibet-Problem endgültig im Sinne Chinas lösen soll: nämlich die Überflutung Tibets mit einem riesigen Zustrom chinesischer Siedler. Falls diese Politik ungehindert fortgesetzt werden kann, werden die Tibeter sehr bald eine unbedeutende und entrechtete Minderheit im eigenen Land sein. So leben in Lhasa, der Hauptstadt Tibets, schon heute rund 160.000 Chinesen neben etwa 50.000 Tibetern. Auch in anderen Gebieten Tibets weist der Zustrom chinesischer Siedler ähnlich dramatische Ausmaße aus, mit dem Ergebnis, daß heute im ehemaligen Tibet weit mehr Chinesen als Tibeter leben. Wobei noch darauf hinzuweisen ist, daß die von China als „Tibet“ bezeichneten Gebiete ohnehin nurmehr ein Drittel Tibets umfassen, weil sich die VR China rund zwei Drittel Tibets als Teil chinesischer Provinzen längst einverleibt hat.
Zwangsabtreibungen und -sterilisierungen
Um so unverständlicher ist es, daß es gegen die Vergewaltigung und Aufteilung Tibets durch China so gut wie keinen Protest der westlichen Regierungen gegeben hat und gibt. Dabei waren und sind die grausamen Tatsachen des von China an Tibet begangenen Völkermords keineswegs unbekannt. Mehr als eine Million Tibeter sind ihm bisher zum Opfer gefallen. Hunderttausend konnten ihr Leben nur durch die Flucht ins Ausland retten. Mit Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisationen großen Stils wird die tibetische Bevölkerung weiter reduziert. Durch die systematische Zerstörung fast aller Klöster wurden die Tibeter der Zentren ihres religiösen und kulturellen Lebens beraubt. Eingriffe in das traditionelle Gleichgewicht von Landwirtschaft und Viehzucht hatten Mißwirtschaft und vorher nicht gekannte Hungersnöte zur Folge. Die Ausplünderung der reichen Bodenschätze, die Vernichtung des Tier- und Baumbestandes, die Militarisierung der einstigen Friedenszone in Zentralasien und ihr Mißbrauch als Atommüllager und Stationierungsgebiet chinesischer Atomraketen setzen weitere Eckdaten für die Zerstörung einer der ältesten Hochkulturen der Welt.
Natürlich ist China bemüht, die bedrückenden Tatsachen im Zusammenhang mit Tibet zu verschleiern und den Eindruck zu erwecken, als sei Tibet ein natürlicher Bestandteil Chinas, der nach Jahrzehnten der Fremdherrschaft von der chinesischen Volksbefreiungsarmee „heimgeholt“ worden sei. Doch ein seriöses Studium der völkerrechtlichen Lage Tibets läßt keinen Zweifel daran, daß Tibet vor der 1949 beginnenden chinesischen Invasion ein unabhängiger, souveräner Staat gewesen ist. Der 'Boston Globe‘ schrieb am 25.9.1990 zu Recht:
„Unter Berufung auf das Völkerrecht und die nationale Souveränität haben fast alle Staaten der Welt den Einmarsch des Irak und die Annexion Kuwaits verurteilt. Vor 40 Jahren fiel China in Tibet ein und annektierte das Land, aber die Welt verharrt seither in einem schändlichen Schweigen und tut so, als sei nichts geschehen. Dieses Schweigen ist auch heute noch eine Schande. Inzwischen sind das tibetische Volk und seine alte Kultur durch das Regime in Peking von der Auslöschung bedroht. Wenn es richtig ist, Irak an der völligen Zerstörung Kuwaits zu hindern, dann ist es auch richtig, sich für Tibet einzusetzen!“
Das Gegenteil geschieht in der offiziellen Politik: Präsident Bush und die westlichen Regierungen waren bereit, für die Wiederherstellung der Souveränität Kuwaits einen blutigen Krieg zu führen — aber im Falle Tibets gibt es nicht einmal einen ernsthaften politischen Druck auf China, Tibet nicht länger zu vergewaltigen. Und alle Sanktionen, die nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Sommer 1989 unter dem Druck der allgemeinen Empörung gegen China verhängt wurden, sind jetzt, nach Chinas Wohlverhalten im Sicherheitsrat der UN, wieder zurückgenommen, ja von neuen Kreditströmen abgelöst worden. Es ist wohl das Unglück Tibets, über keine Ölquellen zu verfügen und so keinen Anreiz zu bieten, für sein Selbstbestimmungsrecht auch nur ein Stirnrunzeln bei den Mächtigen in Peking zu riskieren.
Kollektives Schweigen zur Unterdrückung
Auch die Bundesregierung macht von dieser Regel keine Ausnahme. Auch sie beteiligt sich an dem Komplott des Schweigens in der Tibet- Frage, wie sehr sie auch sonst bemüht ist, den Eindruck konsequenten Eintretens für die Menschenrechte zu erwecken. Noch im Winter 1989/1990 fand die Bundesregierung zwar, die Menschenrechtslage in China und Tibet sei ernst. Und sie erklärte, „Maßnahmen der Indoktrination und Einschüchterung sowie Beschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit halten unvermindert an“; doch schon ein Jahr später behauptete das Auswärtige Amt: „In China, einschließlich Tibet, hat sich die Menschenrechtslage seit Sommer 1989 insofern geändert, als die chinesische Regierung offensichtlich bemüht ist, die einschneidenden Maßnahmen, die damals getroffen worden waren, zu korrigieren.“
Auch die von den Grünen initiierten Bundestagsdebatten und Anträge zum Thema Menschenrechtsverletzungen in China und Tibet und ihre nach den Blutbädern in Lhasa (März 1989) und Peking (Sommer 1989) einstimmig angenommenen Anträge, Entwicklungshilfe und Hermes-Bürgschaften für China zu stoppen, wurden von der Bundesregierung nicht ernstgenommen. Tatsächlich gehen die schweren Menschenrechtsverletzungen in China und Tibet unvermindert weiter, berichten amnesty international und Asia Watch. Tausende Menschen sitzen seit 18 und mehr Monaten ohne Gerichtsverfahren in Gefängnissen.
Wie die Bundesregierung haben auch alle anderen EG-Staaten wegen des chinesischen Wohlverhaltens in der Golfkrise ihre Sanktionen aufgegeben und neue Kontakte zur Regierung in Peking gesucht. Auch bei uns läuft das China-Geschäft des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit seit geraumer Zeit wie geschmiert. Zwar wurde die finanzielle Zusammenarbeit im Juni 1989 offiziell ausgesetzt, doch sind in aller Stille seitdem Darlehens- und Finanzierungsverträge im Wert von 561,6 Millionen DM unterzeichnet worden. Wenn in der Haltung gegenüber China weiterhin Wirtschaftsinteressen bestimmend bleiben, ist das Schicksal Tibets besiegelt. Menschenrechte sind unteilbar. Wann, wo und von wem auch immer sie verletzt werden, stets muß die öffentliche Anklage durch jeden, der seine Stimme erheben kann, die Folge sein! Schweigen ist Verrat an den Leidenden. Das Schweigen zur Unterdrückung in Tibet macht uns alle zu Komplizen der Unterdrücker. Das darf und kann nicht länger sein. Petra K. Kelly, Gert Bastian
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