ESSAY: Wohin treibt der Irak?
■ Saddams Baath-Regime stützte sich auf Modernisierung und Terror
Der Irak ist ein Land der Extremlösungen, voller Unwägbarkeiten. Sorgen und Hoffnungen über seine Zukunft entspringen derselben Quelle: der Eigenartigkeit des vor 22 Jahren aufgebauten politischen Systems, d. h. der deformierten und trotzdem im wesentlichen modernisierenden Politik, die die Baath-Partei der irakischen Gesellschaft aufgezwungen hat. König Feisal, der erste und weiseste Herrscher des modernen Irak, schrieb im Jahre 1933 kurz vor seinem Tod in einem vertraulichen Memorandum: „Immer noch gibt es kein irakisches Volk, sondern unvorstellbare Massen menschlicher Wesen ohne jede Idee des Patriotismus, durchsetzt von völlig absurden religiösen Traditionen, ohne soziale Beziehungen zueinander; sie leihen ihr Ohr dem Bösen, sie sind immerfort zum Aufstand gegen jede Regierungsform bereit. Wir wollten aus diesen Massen ein Volk schaffen, welches wir bilden, lehren und erhöhen würden.“
Zwei Herrscher des modernen Irak
König Feisal und Saddam Hussein, der erste und der letzte Herrscher des modernen Irak, bilden die beiden gegensätzlichen Pole der irakischen Politik. Man braucht den Stil und das politische Temperament Saddam Husseins nicht ausführlich beschreiben. Er ist schon in die regionale Folklore eingegangen. Feisal, der Gegensatz seines letzten Nachfolgers, war weltmännisch, weise, tolerant, ein unermüdlicher Verhandlungsführer, bereit, seine Untertanen zurechtzuweisen, zu schmeicheln, zu ärgern und sogar zu täuschen, um aus ihnen moderne Bürger zu machen. Kurz gesagt — er war zu allem in seiner Macht bereit, um sie zu verändern, außer der Gewalt. König Feisal starb als gebrochener Mann.
Feisal starb vor fast 60 Jahren. Die Bevölkerung des Irak ist von 3,3 Millionen auf 17 Millionen gestiegen. Die überwiegende Mehrheit dieser neuen Iraker lebt in den Städten, sie hat eine moderne Lebensart angenommen und niemals etwas anderes als das Stadtleben erfahren. Der Alphabetisierungsgrad ist unter den höchsten der Dritten Welt. Wir haben nicht mehr mit diesen Stammesangehörigen oder diesen versklavten und von Epidemien und Armut heimgesuchten Bauern der Feisal-Zeit zu tun.
Vor zehn Jahren, als die Auswirkungen des Iran-Krieges den Irak noch nicht betrafen, waren bereits 46 Prozent der Lehrer Frauen, 29 Prozent der Ärzte, 46 Prozent der Zahnärzte und 70 Prozent der Apotheker. Während des Krieges stiegen die Frauen als Angestellte in alle Ministerien auf, und sie sichern im wesentlichen die Verwaltung des Landes. Unter den Auspizien der Baath- Partei ist viel erreicht worden. Man muß dem Teufel Lob zollen. Die Baath-Herrschaft war ein radikaler Bruch mit der irakischen Rückständigkeit, nicht deren Fortschreibung. Aber der Baath verwirklichte dies alles in einer Art, die Feisal sich nie hätte träumen lassen. Er hat Elemente von Gewalt in die menschlichen Beziehungen einfließen lassen, wie sie bis dahin undenkbar waren. Ein Großteil der Bevölkerung gehört heute der Mittelklasse an, und das Land verfügt über eine Intelligenz, die zu den am besten ausgebildeten der arabischen Welt gehört.
Gesichtslos in einer undifferenzierten Masse
Hier besteht ein Paradox. Der Held dieser Geschichte ist Feisal, nicht Saddam. Aber die Wirklichkeit wollte es, daß Saddam ausgeführt hat, was Feisal nicht erreichen konnte. Der Irak steht jedoch in diesem kritischen Moment seiner Geschichte vor dem Problem, ein für allemal mit der Politik Saddam Husseins Schluß zu machen und die tolerante Methode Feisals in einer neuen, erkennbar modernen Form neu zu erfinden.
Die alte Welt mit ihren Regeln ist im Irak nun Vergangenheit. Das Problem liegt in der Tatsache, daß die Individuen aus ihrer alten Beziehungsstruktur herausgerissen wurden, um eine — formal durchaus moderne — gebrochene und atomisierte Existenz zu erreichen, während sie gleichzeitig kein Buch lesen konnten, das nicht zuvor der Zensor autorisiert hatte. Der ideale Baath-Staatsbürger ist niemals ein Individuum; er ist nur ein gesichtsloses Mitglied einer undifferenzierten Masse. Nie hat eine bürgerliche Gesellschaft im Sinne eines Geflechts freiwillig eingegangener sozialer Verbindungen unabhängig vom Staat die traditionelle Gesellschaft ersetzt. Charakter und Persönlichkeit sind verkümmert. Hier liegt die große Gefahr für die Zukunft.
Kann man unter solchen Umständen eine weltliche Regierungsform als unmittelbar realisierbares und realistisches Mittel rechtfertigen, um der Verwirrung zu entrinnen, in der die Sieger dieses Krieges den Irak zurückgelassen haben? Um diese Frage zu beantworten, muß man die große heimliche Spaltung in der irakischen Politik betrachten — die zwischen Sunniten und Schiiten.
Die schiitischen Araber wurden im Irak historisch fürchterlich diskriminiert, gesellschaftlich wie politisch. Doch die baathistische Modernisierung hat mit zwei widersprüchlichen Elementen die Dynamik der sunnitisch-schiitischen Beziehungen erschüttert. Die erste erreicht uns durch die große kollektive Erfahrung des Krieges mit dem Iran, der die tiefgreifende Erschütterung der traditionellen Spaltung der Politik entlang religionsgemeinschaftlicher Linien bestätigt: Schiitische Soldaten unter der Führung hauptsächlich sunnitischer Offiziere kämpften gegen die Armee der Islamischen Republik Iran. Diese Soldaten waren zwar keine Freiwilligen, aber sie unterschieden sich auch nicht besonders von ihren zivilen Gegenstücken, die nicht die Baath-Regierung gewählt haben, aber durch die Erfahrung von Gewalt und Furcht zu Komplizen dieses seit 20 Jahren fortgeführten politischen Projekts wurden, auch gegen ihren eigenen Willen.
Das zweite Element ist wohl das tragischste und widersprüchlichste. Die Modernisierungserfahrung unter der Baath-Herrschaft hat auch sektiererische Haltungen verstärkt, während sie die schiitische Identität der irakischen Mehrheit gerade auslöschen wollte. In dem Maß, wie die Embryonen einer zivilen Gesellschaft verschwanden und durch eine nihilistische und gesichtslose Parteiorganisation ersetzt wurden, zogen sich die Leute aus Gründen der Sicherheit und der Selbstverteidigung gegen die erstickenden Umarmungen einer omnipräsenten Baath-Partei auf ihre primäre Bezugsgruppe zurück. Die Hoffnung auf einen echten Laizismus ist Folge eines Islams, der in der einen oder anderen Form im Alltag der Leute immer eine sehr wichtige Rolle gespielt hat. Ein authentischer, in der Verfassung festgeschriebener Laizismus wäre für den Irak das einzige Mittel, sein Überleben zu sichern. Übrigens hat sich auch im Westen der Laizismus erst als Reaktion auf die europäischen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts durchgesetzt. Kurzum: Der Irak steht heute zwischen der Wahl eines kollektiven Selbstmordes oder des Laizismus als Regierungsform.
Die Schranke der Angst ist durchbrochen
Legitimität ist ein Grundproblem jedes aus dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hervorgegangenen Staatswesens. Der Baath hat eine extreme und bizarre Form erfunden, um das Legitimationsproblem zu lösen: Furcht ist zum Zement der irakischen Politik geworden. Diese Lösung konnte von Natur aus nur vorübergehenden Charakter haben. Der Aufstand, der sich heute über den ganzen Irak ausweitet, beweist, daß der Zement zerbröckelt. Die Schranke der Angst wurde durchbrochen.
Letztlich hat also die arabische politische Kultur einen Saddam Hussein kreiert. Wir können uns nicht weniger aus dieser Verantwortung stehlen als die Amerikaner aus ihrer, die darin besteht, einen schmutzigen Krieg, einen Rachefeldzug geführt zu haben. Wie Khomeini ist Saddam Hussein ein ganz und gar einheimisches Produkt der postkolonialen Dritten Welt. Samir Al-Khalil
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