ESSAY: Zum Abschied sag' ich leise Servus
■ Ein Nachruf auf den Schwulen-Paragraphen 175
Er wolle nicht „Kanzler der Schwulen“ sein. So wischte im Jahre 1980 ein gewisser Helmut Schmidt die Forderung nach Streichung des Paragraphen 175 rigoros vom Tisch. Elf Jahre später bewirbt sich - so scheint's - Helmut Kohl um den Ehrentitel. Laut Bonner Koalitionsvertrag soll die strafrechtliche Sonderbehandlung von Homosexualität endlich verschwinden. Das Echo in der Schwulenszene blieb dennoch gedämpft. So richtig Freude wollte nicht aufkommen. Die Reserviertheit ist nicht ganz unbegründet: Nicht die Kraft der schwulen Bewegung, nicht die seit langen Jahren vorgebrachten Argumente gaben beim Jawort von CDU/CSU letztlich den Ausschlag. In den Koalitionsvereinbarungen firmiert die Abschaffung nicht etwa unter „Gleichberechtigung für Homosexuelle“ sondern unter dem Etikett „innerdeutsche Rechtsangleichung“. Die bevorstehende Aufhebung des Paragraphen 175 ist ein letztes Geschenk des abgewickelten Sozialismus der DDR.
1988 hatte man dort den Schwulenparagraphen abgeschafft. Nach der Wende gelang es der Schwulenbewegung in Kooperation mit den anderen Bürgerbewegungen, die (Wieder-)Einführung des Paragraphen 175 zu verhindern. Im Einigungsvertrag gab es ein gespaltenes Recht, und das hat die entscheidende Delegitimierung des Paragraphen 175 bewirkt. Aber die Sache hat einen Pferdefuß: Der Schwulenparagraph soll nicht ersatzlos gestrichen, sondern durch die Einführung einer neuen einheitlichen Jugendschutzvorschrift für die Altersstufe von 14 bis 16 Jahren ersetzt werden. Das bedeutet für die Schutzaltersgrenze im lesbischen und heterosexuellen Bereich eine Anhebung, bei Schwulen eine Absenkung von zwei Jahren. Offensichtlich sieht sich die Regierung genötigt, einem gesunden Empfinden im Volk symbolisch Tribut zu zollen.
Eine Erhöhung der allgemeinen Altersgrenze steht nicht nur im krassen Widerspruch zum Votum der gesamten Sexualwissenschaft, sondern auch zur Rechtsentwicklung in zahlreichen europäischen Nachbarländern, wo die Schutzaltersgrenze bei 14 oder 15 Jahren liegt. Daher muß einerseits der politische Dissens gegenüber den Koalitionsplänen artikuliert und weiter für die ersatzlose Streichung gekämpft werden. Wenn die angekündigte neue Strafnorm nicht zu verhindern ist, bedarf es aber gleichwohl der aktiven Einmischung in ihre Ausgestaltung. An der konkreten Tatbestandsfassung wird sich entscheiden, ob es - vereinfacht gesprochen - in den nächsten Jahren im Jugendbereich zehn oder 200 Verurteilungen, 50 oder 1.000 Verfahren gibt.
Was aber kommt nach dem Paragraphen 175? Das Ende der strafrechtlichen Sonderbehandlung ist nicht das Ende von Diskriminierung. Zwangsheterosexualität als Sozialisationsmuster, antischwule Ressentiments im Alltag, rechtliche Ungleichbehandlung bleiben auch ohne den Paragraphen 175 weiter virulent. Dennoch ist frappierend, wie lautlos sich der Schwulenparagraph aus der Geschichte stiehlt. Das 120jährige Symbol der Homosexuellenunterdrückung fällt, und niemand nimmt davon Notiz. Deutlicher läßt sich der Anachronismus des Paragraphen wohl kaum vor Augen führen. Das Verhältnis der Gesellschaft zur Homosexualität organisiert sich längst nicht mehr über das Strafrecht. Das wird um so deutlicher, als 1991 zeitgleich mit dieser „Altlastenentsorgung“ ein großer Sprung nach vorn möglich scheint. Eine Verfassungsdiskussion steht auf der Tagesordnung und damit auch die Frage eines ausdrücklichen Diskriminierungsverbots. Hat auf Bundesebene die entsprechende Passage aus dem Runden-Tisch-Entwurf wenig Realisierungschancen, so sieht die Sache in einigen Ländern anders aus. In Brandenburg soll laut Koalitionsvertrag der Schutz gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in der Verfassung verankert werden. Im rot-grünen Niedersachsen wollen beide Regierungsparteien das Kriterium der „sexuellen Identität“ beziehungsweise „sexuellen Orientierung“ in den Gleichbehandlungskatalog aufnehmen. Gleiches schlägt ein im rheinland-pfälzischen (!) Justizministerium entstandener Verfassungsentwurf für Thüringen vor.
In der schwulen Politszene grassiert eine gewisse Verunsicherung. Ohne das Leitfossil bundesrepublikanischer Sexualfeindlichkeit wird das bequeme Verharren in der ewigen Opfer-Attitüde nicht mehr durchzuhalten sein. Vielleicht resultieren daraus einige krampfhafte Bemühungen, die angekündigte 175-Streichung zum besonders perfiden Akt der Repression umzudeuten. Der Paragraph 175 beschert(e) nicht nur seinen direkten Opfern Verknastung und Leid, sondern hat sich auch lähmend auf die politische Entwicklung der bundesdeutschen Schwulenbewegung ausgewirkt und sie im europäischen Vergleich auf das Niveau der 70er Jahre fixiert. In den schwulenpolitischen Debatten diente er als beliebtes Totschlagsargument gegen innovative Ideen. Nun aber kann man sich nicht mehr vor der Frage drücken, was man über Repressionsabbau hinaus von dieser Gesellschaft erwartet.
„Schwule wollen nicht schwul sein“ — das emphatische Verdikt über die angepaßten Homophilen aus dem zwanzig Jahre alten Bewegungs-Pilotfilm Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt, trifft heute in grotesker Umkehrung auf einen Teil der Schwulenfunktionäre zu, die in ihrer urdeutschen Ablehnung von Interessenpolitik verharren.
Beispiel Verfassung: Statt sich auf die Durchsetzung einer expliziten Antidiskriminierungsbestimmung zur „sexuellen Orientierung“ zu konzentrieren, wird für die nichtssagende Formel die Trommel gerührt, „alle Lebensweisen sind schützenswert“. Statt sich zum Status einer Minderheit zu bekennen und daraus präzise Forderungen abzuleiten — keine Privilegierung der Ehe, Schutz auch für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften —, sucht man das Heil im Nirwana des gesellschaftlichen Ganzen und gleitet damit ins Unverbindliche ab. Dabei müßte jedem klar sein: Ohne präzise Formulierungen sind Grundrechte nicht einklagbar.
Das Ende des Paragraphen 175 ist sicher nicht das Ende der Schwulenbewegung. Mit ihm wird allerdings die ebenfalls anachronistisch gewordene Opferidentität schwinden. Nichts aber deutet darauf hin, daß sich die historisch entwickelte autonome schwule Kultur auflösen wird - ganz im Gegenteil. Vor 200 Jahren haben sich Schwule („Les enfants de Sodome“) erstmals öffentlich als soziale Gruppe konstituiert und Rechte eingefordert. Erst in den letzten zwanzig Jahren ist das früher Unerhörte, zumindest in urbanen Strukturen, selbstverständlich geworden. Heute geht es um Gleichberechtigung unter Wahrung der kulturellen Differenz, um Politik gegen Diskriminierung jenseits des Jammerns. Es geht um eine Neudefinition von Schwulenpolitik, um ein Politikfeld Qualität der Lebenswelt(en).
Es gibt wahrlich andere Fragen als die, ob der Staat „uns“ mit der Paragraphenstreichung kaufen will: Wie ist der Gefahr zu begegnen, beim nächtlichen Vergnügen im Park einen übergezogen zu bekommen? Wie läßt sich in Aids-Zeiten trotz der Finanzkrise des Sozialstaates das Recht erstreiten, Krankheit und Tod in Menschenwürde, frei vom Elend menschlicher Isolation und materieller Not begegnen zu können? Welche Möglichkeiten des rechtlichen Schutzes sind für schwule Lebensgemeinschaften zu erkämpfen?
Zu alledem gibt es in der schwulen Bewegung zumindest zwei kontroverse Positionen. „Wir werden getrennte Wege gehen“, heißt es bereits klarsichtig in Kommentaren der Schwulenpresse. Die Einpunkt-Einheitsfront gegen den Paragraphen 175 nähert sich erfolgreich ihrem Ende. Jetzt kann eine pluralistische Politik der schwulen Interessen beginnen. Volker Beck/ Günter Dworek
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