ESSAY: Die Solidarität der Einsamkeit
■ Risiken der afrikanischen Demokratie und die Krise der städtischen Jugend
Wir befinden uns in einer Zeit der Glaubensbekenntnisse, der schnellen Sprüche und der hohlen Worte. So jedenfalls interpretiere ich die politische Debatte der letzten Monate, in denen die Armee Kameruns auf Kinder schießt und gedankenlose Ideologen jedem Widerspruch einen ethnischen Charakter zuschreiben.
Wir müssen es schaffen, neue gesellschaftliche Regeln aufzustellen und ihnen Wert zu geben. Sonst riskieren auch wir, in die Spirale der Südamerikanisierung umzukippen. Denn wenn der Ideenaustausch, den ein politischer Pluralismus impliziert, nicht für jeden die Notwendigkeit deutlich macht, bessere Beziehungen zur Ethik einzugehen, muß man den endgültigen Zerfall unserer Gesellschaft in heterogene Segmente befürchten. Dann entstehen völlig neue Solidaritätsstrukturen.
Ich glaube nicht an einen Krieg zwischen den Stämmen, die es in unserem Land gibt. Nicht nur wegen ihrer mangelnden Gleichartigkeit und dem Interessengegensatz zwischen denen, die immer „gegessen“ haben, und denen, die immer hungrig blieben. Es wäre ja logisch, daß der politische Kampf sich schnell in die traditionelle Gegnerschaft zwischen Reichen und Armen einfügt, welche die Qualität der demokratischen Diskussion bestimmt.
Nehmen wir aber an, daß unsere junge Demokratie es nicht schafft, einen Minimalstandard an Gerechtigkeit zu garantieren. Dann könnten sich die neu entstehenden Solidaritäten nicht bloß in ethno-geographischen Segmenten niederschlagen, sondern auch im Aufkommen von Banden zeigen, von organisierten Gruppen, die sich aus allen Stämmen und allen gesellschaftlichen Rängen rekrutieren, und die die Gewalt als wichtigstes Ausdrucksmittel benutzen.
Bereiten wir uns also auf ein mögliches Scheitern unseres demokratischen Ideals vor. Die Verwaltung unserer Städte darf nicht unseren Politikern entgleiten, um in die Hände irgendwelcher Banditenführer zu geraten. Der Staat muß seinen Respekt wiedererlangen, legitimiert durch eine Nationalkonferenz. Die öffentliche Gewalt muß rehabiliert werden. Denn der Wert eines politischen Systems mißt sich vorrangig an der Qualität der Übereinstimmung, die es hervorbringt. Sie erlaubt es auch den gewählten Regierenden, die Gefühle eines/r Jeden nebeneinander bestehen zu lassen, anstatt Glaubenskriege auf die Spitze zu treiben. Dies ist das grundsätzliche aggiornamento. Lateinamerika versucht zur Zeit, weil es dieses Ziel nicht realisiert hat, die Gleichzeitigkeit von Demokratie, Ungerechtigkeit und Gewalt herzustellen — ein soziales Chaos. Das lateinamerikanische Syndrom ist schon sichtbar in unseren sogenannten großen Städten, die eigentlich nichts weiter sind als Ansammlungen von Slumvierteln. Weil wir nie eine kohärente Stadtpolitik konzipierten, bewegen wir uns auf soziale Konflikte seltener Schwere zu.
Jeden Tag ziehen 28 fünfköpfige Familien nach Duala — diese Zahl ist amtlich. Dies erklärt die in einem Wahnsinnstempo erfolgende Vervielfachung von Slumsiedlungen, die den offiziellen Bauplanern unbekannt sind: Monguicity, Grand Hangar, Mambanda, Village, Carrefour des Billets. In ihnen wohnt aber der Großteil der Bevölkerung dieser Stadt. Es gibt über sie keine vertrauenswürdigen Bevölkerungsstatistiken, und dies läßt schon die Probleme erkennen, die entstehen, wenn man aus diesen spontanen, anarchischen, verkommenen Wohnvierteln Wahlkreise machen möchte und Stimmen zählen will.
In zerstörten Gebieten wie den oben genannten nährt sich die Jugend aus einer Rambo-Ideologie, die sie spannender findet als den Liberalismus — man hat ihr ja schließlich nichts anderes angeboten. Indische oder chinesische Filme, Western und Krimis sind ihre einzige Möglichkeit, außer den Bars. Ihre Freiheitsphilosophen heißen hier Sylvester Stallone, Chuck Norris und Arnold Schwarzenegger. Sie ersetzen Césaire oder Cheikh Anta Diop. Diese Jugendlichen, ob mit Diplom oder ohne jegliche Bildung, erleben als Gegenüber nur die Abstraktheit amtlicher Diskurse oder das Schweigen der Tat: keine Arbeitsbeschaffungspolitik, keine Kriminalitätsvorbeugung, keine Entwicklungsstrategie für ihre Viertel.
Ein schneller soziologischer Überblick über die Jugendbanden, die Barrikaden errichten und rote Karten verteilen, wenn wieder einmal eine Kampagne zivilen Ungehorsams angesagt ist, macht ihre Orientierungslosigkeit verständlich. Doch die Idee, sich in Banden zu sammeln, ist kein Zufall. Ihre Mitglieder teilen gemeinsame Alltagsprobleme und damit ein gemeinsames Schicksal; sie teilen auch einen Mangel an sozialer Einbindung und nichtfunktionierende Familienstrukturen, in denen keines ihrer Probleme gelöst wird, in denen sie nie einen Gesprächspartner finden. Außerdem bietet ihnen die Gruppe eine Solidarität, in der sie ihre Individualität verlassen können, um sich gegen einen gesellschaftlichen Körper zu stellen, der sie ablehnt.
Nachdem sie ohne Ergebnis ihre Einsamkeit und Verständnislosigkeit ausgedrückt haben, entscheiden sich diese Kinder, ihren „Heroismus“ anders auszuleben. Ihr Ziel: Gewalt und Unsicherheit aufrechtzuerhalten in einem System, das sie marginalisiert. Sie wollen sich Stadtviertel symbolisch aneignen, sich mit Polizisten Machtkämpfe liefern, Rambo-ähnliche Faustkämpfe führen, jegliche Vertretung der Unterdrückerischen Administration zerstören, sich den Ruhm des gerechten Killers zulegen, kurz: Sie wollen eine Kultur der Gewalt erfinden und ihre hieraus sich ableitende Vision des Erfolges festigen.
Angesichts dieser Jugendlichen wählt die Regierung zuerst die blinde Repression. Dann beschränkt sie sich auf einen honigartigen Diskurs über „Moral“, „Gesetz“, „Ordnung“ und „Respekt“. Eine solche Naivität ist träumerisch. Denn man darf nicht vergessen, daß diese Jugendlichen am Rande des Abgrunds stehen. Sie haben vor nichts mehr Angst, der Tod erscheint ihnen manchmal sogar wie eine Erlösung. Es nützt daher überhaupt nichts, ihnen ein System fiktiver Werte vorzuschlagen oder auf ihre Angst zu setzen.
Diese Jugendlichen sind offensichtlich zugänglicher für eine populistische Demagogie, die sie zeitweise für eine Sache oder die andere mobilisiert. Ihre Probleme sind die wichtigste Herausforderung der kommenden Jahre. Die Politiker tun unrecht, sie zu vernachlässigen. Celestin Monga
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