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ESSAYPolitischer Szenenwechsel

■ Ganz Europa führt eine Mitte-Rechts-Politik. Die Gesellschaft beginnt gerade, die Leerstellen „Links“ und „Rechts“ neu zu besetzen

Man hat Unrecht, zu glauben, daß der neue Nationalismus ein rechtsextremes Phänomen sei. Wer darin nur die Sehnsucht nach Faschismus oder Petainismus sieht, unterschätzt seine Wichtigkeit. Die besteht darin, daß er eine tiefe Erneuerung der konservativen Rechten anzeigt. Schon seit langem hat die parlamentarische Rechte sowohl in Italien als auch in Deutschland und Frankreich wesentliche Punkte des sozialdemokratischen Denkens und des Wohlfahrtsstaats für sich akzeptiert. Die Wirtschaftspolitiken Giscard d'Estaings und Helmut Schmidts waren sich sehr nahe, obwohl der eine ein Liberaler und der andere Sozialist war. Felipe Gonzalez gibt ganz offensichtlich der wirtschaftlichen Modernisierung Spaniens den Vorrang vor sozialen Reformen, und Frankreich ist sogar bis zum Paradox gegangen: Rechte Regierungen haben die Investitionstätigkeit gehemmt, linke Regierungen haben sie wieder möglich gemacht, indem sie den Arbeitnehmern eine Sparpolitik und wachsende Arbeitslosigkeit zumuteten.

Ganz Europa führt eine Mitte- Rechts-Politik, die von gemäßigt linken oder aufgeklärt rechten Regierungen verantwortet wird. Unter diesen Bedingungen sind „Rechts“ und „Links“ Leerstellen, und überall erscheinen neue Kräfte, die in den Gesellschaften und nicht in den politischen Generalstäben entstanden. Sie versuchen, diese Leerstellen zu besetzen. Links tauchen die Ökologen auf, rechts die Nationalisten. Diese erringen im Moment die sichtbarsten Siege. Vor allem, weil sich die reichen Regionen von der armen Welt, die sie umgibt, bedroht fühlen. Die Westdeutschen ertragen die Opfer nicht, die man ihnen abverlangt, um die Wiedervereinigung zu verwirklichen; die reichen Lombarden bezichtigen Rom der Beziehungen mit der Mafia des Südens und nehmen es der Regierung übel, daß sie Immigranten in ihre Region läßt. Ein Gemäßigter wie Valery Giscard d'Estaing scheut sich nicht, von „Invasion“ zu sprechen, und Le Pen erhält eine politische Unterstützung, die weit über die Wählerschaft der Front National hinausgeht. Selbst die Katalanen, die einst so glücklich waren über die Ankunft der ausgehungerten Murcianos, sind jetzt über die Einwanderung der ersten Marokkaner beunruhigt.

Aber das ist nicht alles. In vielen Ländern greift eine tiefere Sorge um sich — die Angst vor dem Verlust der nationalen Identität. Diese Empfindung ist in Frankreich am stärksten, wo Staat und Nation am engsten miteinander identifiziert wurden. Stark ist sie auch in Großbritannien, wo die ethnischen Spannungen sehr scharf sind. Manchmal nimmt diese gemeinschaftliche oder nationale Abwehrhaltung andere Ausdrucksformen an. In Norwegen etwa bedient sie sich eines linken Vokabulars; anderswo spielt sie eine große Rolle bei den Ökologen. Vor allem ist aber zu betonen, daß diese Abwehr die Hauptdefinition der heutigen Rechten darstellt, während die Linke durch ihr ältestes Thema — das Teilen — bestimmt bleibt. Das Volk der Linken will die Distanz zwischen Nord und Süd, Reich und Arm verkleinern, das der Rechten will — überall in der Welt — einzig seine Identität vorm Anderen bewahren, auch wenn es sich dabei für „politically correct“ hält. Das ist der Grund, warum die Ökologen in ihrer vorherrschenden Tendenz schließlich doch dem Volk der Linken angehören: Sie haben nämlich ein Bewußtsein von gegenseitigen Abhängigkeiten, von Solidarität, vom Teilen und von der Notwendigkeit einer Begrenzung oder Selbstbegrenzung der Macht der Reichsten und Stärksten.

Wenn man dieser Hypothese folgt, wird deutlich, daß der nationalistische Aufschwung kein flüchtiger Einschnitt ist. Hoffen wir, daß die Radikalität und Gewalttätigkeit des neuen Nationalismus von begrenzter Dauer sind. Aber schon heute nimmt er parlamentarische Ausdrucksformen an, fügt sich ein ins lokale politische Leben, wie in Frankreich. Es ist sogar frappierend, zu sehen, daß soziale Zwischenfälle in Frankreichs Städten, wo die Front National eine solche Bedeutung gewonnen hat, Ausnahme- und Randerscheinungen bleiben, während sie in Großbritannien an der Tagesordnung sind.

Die Transformation der politischen Szene wird sich in zwei Schritten vollziehen. Im ersten, den wir gerade erleben, reagieren die politischen Parteien des Zentrums, also die alten Liberalen und die alten Sozialisten, mit einem Sammlungsprozeß auf die Formation der neuen Linken beziehungsweise neuen Rechten. Ist es wirklich so wichtig, ob Major über Kinnock gesiegt hat? Soll man sich darüber erschüttert zeigen, wenn Baladur an die Stelle von Berégovoy tritt? Hat die Koalition der Christdemokraten und der Sozialisten in Italien nun linken oder rechten Charakter? Rührt die Stärke der PSOE in Spanien nicht daher, daß sie eine große Partei des Zentrums ist?

In einer zweiten Etappe wird in dem Maße der Konflikt auf der politischen Bühne wiedererscheinen, wie die neuen Forderungen — die nationalistischen auf der einen, die solidaristischen auf der anderen, einen stärkeren politischen Ausdruck finden. In Ländern mit reinem Mehrheitswahlrecht wird dieser Prozeß länger dauern als in denen, wo das Verhältniswahlrecht die Entwicklung von Minderheitsströmungen erleichtert.

Allerdings wird sich auch herausstellen, daß die Wege der Geschichte etwas kurvenreicher verlaufen. In Frankreich beispielsweise wird die klassische Rechte eine Linke ablösen müssen, die liberal geworden ist — wenngleich zögernd und mit schlechtem Gewissen. Der Sieg dieser Rechten wird wahrscheinlich die Nationale Front schwächen. Man könnte sich also eine Evolution „a l'anglaise“ vorstellen: Die traditionellen Parteien kontrollieren das politische Leben, während die neuen Strömungen auf dem Niveau der Meinungsbildung und sozialer Aktivitäten an der Basis verbleiben. Dabei sollte man aber nicht vergessen, daß sich Frau Thatcher dadurch an der Macht gehalten hat, daß sie nationalistische Themen aufgriff: zuerst in der Auseinandersetzung mit Argentinien, dann im Kampf gegen „Europa“. Das zeigt, daß die neue politische Thematik bereits ins Herz des politischen Lebens vorgedrungen ist. Neuestes Indiz hierfür ist das italienische Wahlergebnis: Der alte Gegensatz zwischen den Christlichen Demokraten und den Kommunisten beginnt von dem neuen zwischen den „Ligen“ und der alten Mehrheitskoalition verdrängt zu werden.

Gegenwärtig ist das politische Leben leer. Es scheint sich auf Kommunikation, auf die Schaffung von öffentlichkeitswirksamen Bildern und auf „führende Persönlichkeiten“ zu reduzieren, es macht einen lächerlichen Eindruck.

Entweder hält der Prozeß an, in dem dieses politische Leben einerseits, die neuen sozialen Forderungen andererseits auseinanderdriften. Dann werden Gleichgewichtsstörungen wie Abkehr von der Politik, Gewalt und die Korruption der politischen Klasse zunehmen. Oder das politische Leben wird durch die neuen sozialen Forderungen geprägt werden, wie es in der geschichtlichen Ära der Fall war, als sich die Linke und die Rechte mit den sozialen Klassen identifizierten, die im Prozeß der Industrialisierung geboren wurden. Wir sind gegenwärtig nicht Zeuge einer Krise der politischen Institutionen, sondern wir erleben eine grundlegende Erneuerung der Debatten, der Wahlmöglichkeiten und der politischen Konflikte. Alain Touraine

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