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Archiv-Artikel

ES SIND MENSCHEN WIE DU UND ICH, MIT ÄNGSTEN, SEHNSÜCHTEN UND NICHT ZULETZT DEM RECHT AUF WÜRDE UND ANERKENNUNG Ode an die Schreiber der unwichtigen Seiten

LIEBLING DER MASSEN

Der Balkonstuhl ist am Vorabend nass geworden.

„Warte mal“, sage ich und greife nach der Sonntagszeitung. „Leg doch einfach einen Stapel von den unwichtigen Seiten unter.“ Ich reiche ihr „Karriere“, „Reisen“ und noch irgendwas, das nie jemand liest. Die unwichtigen Seiten eben.

Dann erst denke ich nach: Was, um Gottes Willen, mache ich hier eigentlich? Wichtige Seiten – unwichtige Seiten: Unterhalb dieser menschenverachtenden Schubladen in meinem offenkundig reichlich braunen Gedankenmöbel befinden sich im Grunde nur noch diejenigen für „wertes“ und für „unwertes“ Leben. Auch die unwichtigen Seiten werden doch schließlich von gut ausgebildeten Menschen geschrieben, mit ihrem ganzen Herzblut und voller Elan.

Es sind Menschen wie du und ich, mit Ängsten, Sehnsüchten und nicht zuletzt dem Recht auf Würde und Anerkennung. Um die unwichtigen Seiten zu schreiben, überwinden die Schreiber der unwichtigen Seiten tapfer alle inneren und äußeren Widerstände. Mit vor Müdigkeit roten Augen pressen sie des Nachts im flackernden Kerzenschein ihre Hirne und Seelen aus wie Zitronen. Nebenan schreit das Kind. „Sch, sch“, versuchen die Schreiber der unwichtigen Seiten den quäkenden Säugling zu beruhigen und ihn zurück in den Schlaf zu wiegen. Das dauert. Kein Wunder, denn das Kind ist hungrig. Schlaff hängt die leere Brust, denn Hunger quält auch die Schreiber der unwichtigen Seiten.

Am Ende schläft das Kind doch wieder ein. Glück im Unglück, denn der Artikel muss noch heute Nacht fertig werden – auch unwichtige Seiten haben Termine, knappere sogar als die wichtigen. Kurz schweift der müde Blick aus dem Fenster der abbruchreifen Plattenbauwohnung im dreizehnten Stock über die nächtliche Stadt: In der Ferne ist es überall dunkel. Dort, in den besseren Häusern, aalen sich die Schreiber der wichtigen Seiten champagnerschwer in ihren weichen Daunen: Politik, Sport, Kultur. Weit über all den Villen thront schwarz am Hang das riesige Schloss des Schreibers der wichtigsten Seite von allen: der mit den skurrilen Todesfällen, Filmstartrennungen und kriminellen Königskindern.

Zurück an die Arbeit

Licht dagegen strahlt aus den nahen Heimstätten der Schreiber der unwichtigen Seiten – sie alle müssen noch arbeiten: So auch nebenan, in der Baracke des Machers der Motor-Beilage. Gleichfalls geschäftig flackert es unter der Wohnbrücke des Wirtschaftsredakteurs. Am hellsten leuchtet die Hütte des Immobilienteil-Verfassers. Sie brennt lichterloh, und mit ihr der arme Autor, der soeben von der Existenz des Internets erfahren hat.

Schwermütig kehren die Schreiber der unwichtigen Seiten zurück an die Arbeit: Ein Reisebericht voll blühender Fantasie über eine Gegend, in die die Schreiber der unwichtigen Seiten nur allzu gern mal fahren würden. Aber das Geld reicht ja noch nicht mal für den Bus zum Kinderarzt, geschweige denn für diesen (In diesem Moment stirbt das Kind).

Müßig ist die Frage, warum die Schreiber der unwichtigen Seiten stattdessen nicht einfach die wichtigen Seiten schreiben. Wenn das Schicksal mit rauem Ruf uns alle nebeneinander auf dem Kasernenhof des Daseins antreten lässt, und mal mit spitzem, mal mit weichem Finger auf uns zeigt, um uns die weitere Bestimmung zuzuweisen, hilft nun mal kein Hadern. Denn der eine ist sehend, und der andere blind, der eine ist reich, und der andere arm, der eine schreibt die wichtigen und der andere die unwichtigen Seiten.

Sie haben es sich nicht wirklich ausgesucht und unseren Hohn beim besten Willen nicht verdient. Seien wir doch lieber froh und dankbar, dass es sie gibt, wie es den Geier gibt und die Ratte, die Wespe, die Zecke und die FDP. Sie alle erfüllen einen wichtigen Zweck, und sei es nur der, dass wir selber uns nützlicher und besser fühlen können. Daran sollten wir jedes Mal denken, wenn wir mit den unwichtigen Seiten unsere durchnässten Schuhe ausstopfen, einen Fisch einwickeln oder uns im Wald den Arsch abwischen.