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Archiv-Artikel

ERMITTLUNGEN VON JOHANNES GERNERT Über die Vorurteile eines Laiendetektivs

EIN MANN MIT SÜDLÄNDISCHEM AUSSEHEN STECKT IN EINEM BAUM. IST DAS AN SICH SCHON VERDÄCHTIG?

Manchmal fahre ich frühmorgens mit dem Fahrrad über eine S-Bahn-Brücke, und seit einiger Zeit steht da häufiger ein Mann. Er lehnt am verrosteten Geländer und guckt in die Luft. Wenn ich ihn anschaue, schaut er weg, sehr schnell, als hätte ich ihn bei irgendetwas erwischt. Deshalb ist er mir überhaupt erst aufgefallen.

Normalerweise wirken Menschen nicht unbedingt ertappt, wenn man sie mustert. Man kann zwar viele verunsichern, indem man im Vorbeigehen einen bestimmten Punkt unterhalb des Kinns etwas länger fixiert. Dann checken sie, ob da Sauce auf dem T-Shirt ist. Ein einfacher, kurzer Blick reicht dafür aber bei den wenigsten. Der Mann ist allerdings schon beim ersten Mal sofort zusammengezuckt, ich hatte den Kopf nur kurz zur Seite gedreht, weil um diese Zeit an diesem Ort bisher noch nie jemand gestanden hatte. Wieso auch.

Als ich ihn zum zweiten Mal bewusst wahrnahm, durchstöberte er einen Baum. Er war auf eine kleine Plattform am Ende der S-Bahn-Brücke gestiegen. Ich sah nur seine Hose, sein Oberkörper steckte in den Blättern. Er schien in den Zweigen etwas zu suchen. Kokain war das Erste, was ich dachte. Seine Züge schienen mir etwas Kolumbianisches zu haben, aber vielleicht auch nur wegen des Anfangsverdachts. Ich bin nicht gut im Nationalitätenschätzen. Neulich habe ich für eine Recherche in einem Club einen Spanier angesprochen. Er stammte aus dem Iran.

Wenig später musste ich einmal am Hauptbahnhof von Duisburg umsteigen. Am Fuße einer Treppe standen Polizisten und kontrollierten Personen. Sie hielten nur Schwarze an. Im Grunde gehe ich genauso simpel vor, dachte ich, mit meiner dürftigen Beweiskette. Lateinamerikanischer Typ, bei den S-Bahn-Gleisen, im Baum, zu einer ungewöhnlichen Zeit – bestimmt ein Dealer.

Rein theoretisch könnte es ja auch sein, dass es sich bei dem Mann an der Brücke um einen chilenischen Biologen handelt, der die Vegetation deutscher Großstädte untersucht, am Beispiel eines Holunderbaums in Prenzlauer Berg. Oder er hat beim ersten Mal gewartet, bis sein Arbeitskollege kam, um ihn abzuholen, und beim zweiten Mal suchte er seine entlaufene Katze, die sich im Baum versteckt hatte. Das ist ganz ernsthaft alles nicht auszuschließen. Aber ich dachte sofort an Drogen und Kriminalität. Ich weiß nicht, ob ich das auch getan hätte, wenn da ein bulliger Glatzkopf gestanden hätte.

Wenn der Mann nicht an der Brücke steht, betrachte ich im Vorbeifahren jetzt immer den Baum und suche nach Indizien. Irgendwo einen Tüte zu sehen? Ein kleines Päckchen? Etwas, was er da versteckt haben könnte?

Außerdem fallen mir seitdem ständig überall Zigarettenmafiosi auf. Ich befahre dieselben Straßen, ich betrete dieselben Bahnhöfe, aber auf einmal lehnen da Menschen, die womöglich aus Vietnam kommen und eine Stange Kippen in einen Brückenpfeiler gesteckt haben oder an einem U-Bahn-Ausgang mit einem Päckchen Marlboro Lights in der Hand herumspielen, so wie das eigentlich niemand tut, außer er möchte sagen: Schaut mal, was ich hier habe!

Das Komische ist: Diese Leute kann man fünf Minuten lang anstarren, und es scheint sie überhaupt nicht zu stören. Ich bin mir noch nicht sicher, was genau das für den Mann an der Brücke bedeutet.

Neulich habe ich ihn wieder gesehen. Er kam mir plötzlich so vietnamesisch vor.