EINE TIEFGEKÜHLTE HÜHNERKEULE IST GUT GEGEN FIEBER : Die Weisheit von Mitreisenden
Endlich dieser Freitag. Der letzte Arbeitstag im Jahr. Es reicht. Alles reicht. Nach Hause, nur nach Hause. Vorher muss ich noch kurz zur Apotheke, ein Rezept abgeben. Weil ich so kaputt und erschöpft bin, kaufe ich dazu einen Anti-Stress-Lavendel-Badezusatz und einen Winterzauber-Bio-Glücklich-und-Ruhe-und-so-Tee. Ich zahle mit Karte, um nicht allzu hautnah zu spüren, dass ich wieder pleite bin.
Die Apothekerin ist ganz freundlich. Sie packt mir alles in eine Tüte und kramt noch in einer Schublade: „Ich gebe Ihnen ein paar Pröbchen mit. Hier ist ein Duschgel mit Limette und hier eine ganz leichte Creme gegen erste Fältchen.“ Moment mal. Gegen erste Fältchen? Bei mir? Das geht gar nicht. Ich bin 24 und frisch wie der Frühling, meine einzigen Falten sind in meiner Jeans, du blöde Kuh. Ich nehme die Tüte und stapfe nach Hause. Warum hält sie mir eigentlich nicht die Tür auf, wenn ich so alt aussehe?
Vierzehn Stunden Schlaf
Später am Abend kommt mein Freund, er wollte eigentlich noch irgendwohin gehen, aber das geht mit mir nicht. Ich bin kaputt und fühle mich ein bisschen alt. Wir essen, fallen ins Bett und wachen erst am nächsten Nachmittag wieder auf. Besser als jedes Ausgehen.
Nach dieser vierzehnstündigen Totenruhe bin ich mit der Welt wieder halbwegs versöhnt. Wir sind abends in einer Kneipe verabredet, im Wedding. Jemand schenkt uns im U-Bahnhof ein Ticket, weil das noch den ganzen Tag gilt. Er sagt, er hätte vorher schon zwei Frauen gefragt, aber die hätten gesagt „Nee, wir wollen nix, wir kaufen uns lieber ein eigenes.“ Wie dämlich. Wir nehmen das Ticket und steigen in die U-Bahn.
Im Vierersitz neben uns sitzt ein alter Mann, den wir der Einfachheit wegen mal „Penner“ nennen. Er hat einen zotteligen Bart und auf dem Schoß einen schmutzigen Baumwollbeutel mit Einkäufen. Als ich von unserer Zeitung hochschaue, nimmt er gerade eine tiefgekühlte Hühnerkeule aus dem Beutel und hält sie sich an die Stirn. „Hilft gegen Fieber“, sagt er.
Ein älteres Paar steigt ein: Oma mit Pelzmantel, Opa mit russischer Pelzmütze. Der Penner steht auf und sagt zu ihnen: „Wollen Sie hier zusammen sitzen? Bitte sehr“, und sie setzen sich, danke, danke. Der Penner setzt sich zu uns in den Vierer. „Wissen Sie“, sagt er zu dem Paar, „ich weiß ja nicht, wie lange Sie fahren müssen. Aber es könnte sonst sein, dass sie sich voneinander entfremden!“ Ja, danke, sagen die beiden. Ihnen gegenüber sitzen zwei Mädchen, ungefähr 17 Jahre. Die eine hat ihre Beine übereinandergeschlagen, den Opa stört das. „Frollein, soll ich Ihre Schuhe putzen oder können Sie den Fuß auch runternehmen?“ Sie schaut ihn entgeistert an: „Können Sie das vielleicht auch bisschen freundlicher sagen? Und überhaupt, ey, guck mal deinen Hut an, Alter!“ Ihre Freundin lacht. Der Penner schaltet sich ein. „Lassen Sie die junge Frau in Ruhe, die hat mit ihrem Schuh gar nichts berührt, sie saß die ganze Zeit so“ – und er setzt sich so hin wie sie. Das Mädchen streckt ihre Hand rüber, „Schlag ein, Mann!“ Der Opa ist sauer. „Das ist die Jugend!“
Hochzeitsflug
Ich niese. „Gesundheit!“, sagt der Penner, und „Gesundheit“ sagen auch die Mädchen. „Und ein langes Leben“, sagt er noch zu mir, „denn man muss freundlich sein zueinander. Oh, und Ihnen ein ganz besonders langes Leben, wissen Sie, warum?“ Ich schüttel den Kopf. „Weil Sie so schöne Wimpern haben. Wie ein Marienkäferchen auf seinem Hochzeitsflug! Wunderschön.“ Danke, sage ich, und weil wir schon im Wedding sind, müssen wir jetzt aussteigen. Später in der Kneipe denke ich, ein schöner Marienkäfer mit ersten Fältchen, das ist eigentlich okay.