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Archiv-Artikel

EIN PRÄSIDENTSCHAFTSKANDIDAT WENIGER IN BRASILIEN Der verflixte 13. August

AUS RIO DE JANEIRO

ANDREAS BEHN

Beim Friseur verfolgen alle die Liveübertragung. „Ich wollte ihm meine Stimme geben,“ sagt der junge Haarstylist. „Die Homo-Ehe kannst du aber gleich wieder vergessen“, ätzt eine Frau. Jemand anders unkt: „Bestimmt hatte [Präsidentin] Dilma die Finger im Spiel.“

Brasilien ist geschockt. Noch am Dienstagabend stand Eduardo Campos, Kandidat der Sozialisten (PSB) bei den Präsidentschaftswahlen vom Oktober, in der wichtigsten Nachrichtensendung live Rede und Antwort. Am Mittwochvormittag, den 13. August, stürzte die Cessna mit dem Kandidaten, vier Begleitern und zwei Piloten an Bord nach einem missglückten Landeanflug in ein Wohnviertel der Hafenstadt Santos im Bundesstaat São Paulo. Alle Insassen starben.

Flugzeugabstürze haben immer etwas Makabres und wecken Ängste. Besonders, wenn ein Prominenter unter den Opfern ist, zu dem viele irgendein Verhältnis zu haben glauben. Der 49-jährige Campos repräsentierte zwei Monate vor entscheidenden Wahlen in Brasilien eine Art dritten Weg, eine Alternative zum üblichen Wettstreit zwischen der halb linken Arbeiterpartei PT und der rechtsliberalen PSDB, die seit 20 Jahren mit ihren jeweiligen Koalitionspartnern konkurrenzlos um das höchste Staatsamt buhlen.

Campos’ PSB war erst vor Kurzem aus der Regierungskoalition von Präsidentin Dilma Rousseff ausgeschert. Sein gewagter Alleingang wurde interessant, als sich die populäre frühere Umweltministerin Marina Silva anschloss. Bei der letzten Präsidentschaftswahl 2010 erreichte sie als Kandidatin der Grünen überraschend 20 Prozent. Vielen gilt sie als korruptionsfreie Antipolitikerin, die die Werte der jüngsten Massendemonstrationen repräsentiert, die während der Fußball-WM weltweite Beachtung fanden.

Campos kam in Umfragen zwar nur auf zehn Prozent, weit hinter Amtsinhaberin Dilma Rousseff mit 38 und PSDB-Kandidat Aécio Neves mit 20 Prozent. Doch plötzlich ist alles anders: Wird nun die beliebte Marina Silva anstelle von Campos kandidieren? Dann sinken die Chancen, dass Rousseff im ersten Wahlgang gewinnt, deutlich. Und die PSDB könnte es sogar die Teilnahme an der Stichwahl kosten. Die gesamte bisherige Vorwahlzeit steht Kopf.

Zehn Tage hat die PSB Zeit, sich zu entscheiden: Mit der ebenso egozentrischen wie strahlenden Marina Silva ihr eigenes Profil verlieren, aber Stimmen gewinnen? Oder überhaupt keinen neuen Kandidaten aufstellen und zur PT zurückkehren?

So lange wird ganz Brasilien an Campos und seinen Großvater denken, den legendären Linkspolitiker Miguel Arraes. Der starb vor genau neun Jahren. An einem 13. August.