EIN PAAR JUNGS : Kurven fahren
In der U-Bahn steht eine Gruppe von sechs Jungs. Sie sind vielleicht siebzehn Jahre alt, alle ziemlich lang und dünn. Sie tragen enge Hosen und weite Parkas und haben sehr große Füße. Irgendwas an ihnen ist total unproportional. Ich überlege, ob die Füße vielleicht später noch mal kleiner werden. Etwas muss da noch passieren.
Sie sind auf Klassenfahrt oder so, jedenfalls kommen sie nicht aus Berlin. Sie reden über die U-Bahn und finden es krass, dass man in den neueren Zügen von vorne bis hinten durchgucken kann. „In der Kurve ist es noch krasser“, sagt der eine. „London ist eh viel geiler“, sagt ein anderer. Keiner hört ihm zu. Einer sagt etwas über die U-Bahn in München. „Was hast du in München gemacht, Mann?“, wird er gefragt. „Ich hab jemanden besucht“, sagt er. „Hä? Wen hast du besucht?“, fragt einer zurück. „Meine Tante“, sagt der eine, ein bisschen beschämt und ein bisschen trotzig. „Ach so“, sagt der andere, „langweilig.“ „London ist eh viel geiler“, sagt der eine noch mal. Wieder hört ihm keiner zu. Hier gibt es sehr strenge Machtstrukturen, denke ich. Gar nichts ist zufällig, weder die Fragen noch die Antworten, noch die großen Füße. Alles ist kalkuliert. Wenn einer von denen keine großen Füße hat, trägt er wahrscheinlich trotzdem große Schuhe, einfach weil alle das so machen. „Wann müssen wir eigentlich raus?“ fragt einer. „Gneisenauer Weg“, sagt ein anderer. „Ey, Gneisenaustraße, Mann“, wird er korrigiert. Die U-Bahn fährt eine Kurve. „Guck, krass“, sagt einer. Schön, dass sie sich so freuen können. Ich meine, andere Jungs spielen Ego-Shooter, diese hier fahren einfach U-Bahn. „Find ich gar nicht krass“, sagt der eine wieder, „London ist eh viel geiler.“ Er sagt es jedes Mal in dem gleichen Tonfall. „Hä? Wieso London, Mann, warst du schon mal in London?“, fragt ihn jemand. „Nee“, sagt er, „war ich nicht, aber trotzdem.“
MARGARETE STOKOWSKI