EIGENTLICH IST DIE ZEIT DER MULTIPOLARITÄT LÄNGST VORBEI : Weltverantwortung ohne Raubkrieg
Schröder hat ein großes Wort gelassen ausgesprochen: Die Welt stehe vor der historischen Frage, ob sie in Zukunft multipolar oder von einer einzigen Macht regiert wird. Er hat sich damit selbst eine weltgeschichtliche Rolle zugewiesen. Er führt den Kampf der Multipolarität gegen die Zentralisierung. Kanzler der Vielheit!
Das klingt gut – und ist auch gut, soweit es der Abwehr eines scheußlichen Ölkrieges dient. Aber auf der abstrakten Ebene, die Schröder betreten hat, steht keineswegs fest, dass die Multipolarität gegenüber der Zentralisierung das bessere Prinzip ist. Sie entspricht zwar dem postmodernen Zeitgeist, bleibt aber hinter den Anforderungen der Gegenwart zurück.
An allen Ecken und Enden zeigt sich, dass Zentralisierung angesagt ist. Die Zäune, die bisher die Teile der Welt gegeneinander abgeschirmt haben, sind beseitigt. Die Wirtschaft ist globalisiert und schreit nach zentraler Regelung, die Mentalitäten sind in der Menschenrechtsidee ausgeglichen. Das Prinzip der Souveränität der Staaten ist in Auflösung begriffen. Denn das Verbot des Angriffskrieges wurde – mit Schröders Billigung – beseitigt. Zurzeit herrscht Chaos. Die Welt steht auf einem Bein, sie muss das andere nachziehen.
Wenn Schröder sich prinzipiell der Multipolarität verschreibt, so verwirft er das große Projekt der Menschheit, das in der Antike mit den Kosmopoliten begann, in der Aufklärung seinen ideellen Höhepunkt hatte und in Völkerbund und UNO praktisch zu werden versuchte: die Welteinigung in Frieden. Wenn sich die Einsetzung einer Weltzentrale auch bisher als wirkungslos erwiesen hat, weil ihr das Gewaltmonopol fehlte, so muss das Projekt deshalb nicht aufgegeben werden. Denn die Tatsache, dass sich ein solches Gewaltmonopol an anderer Stelle – nämlich in den USA – herausbildet, gibt ihm eine ungeahnte Chance.
Schröder hat angedeutet, dass es sich bei dem Krieg gegen den Irak um einen Welteinigungskrieg handelt. Das spüren alle, und deshalb ist der Protest so lahm. Denn mehr oder weniger bewusst ist allen klar, dass das Prinzip „Multipolarität“ – die Souveränität der Einzelstaaten – spätestens seit der Erfindung der Atombombe obsolet ist.
Zentralisierung zu bevorzugen bedeutet noch nicht, Kriege gutzuheißen. Denn sie kann umso friedlicher verlaufen, je weniger Widerstand die Welt gegenüber der einzigen Supermacht leistet. Umso wirkungsvoller kann diese Macht dahin gelenkt werden, tatsächlich die Verantwortung für die Welt zu übernehmen – statt sich selbst durch Raubkriege zu bereichern. SIBYLLE TÖNNIES
Die Autorin ist freie Publizistin in Potsdam. 2002 erschien ihr Buch „Cosmopolis Now. Auf dem Weg zum Weltstaat“