EHRUNG DURCH UNIFREUNDE: Preis für abgeschaffte Exzellenz
Mit dem Bremer Studienpreis 2010 wurde eine Abschlussarbeit des Studiengangs Behindertenpädagogik ausgezeichnet. Den wickelt die Uni seit 2005 ab.
Bei der Verleihung des Bremer Studienpreises 2010 wurde seit langem wieder eine pädagogische Diplomarbeit geehrt - aus dem Studiengang Behindertenpädagogik. Der ist zwar international renommiert gewesen, befindet sich aber seit 2005 in Abwicklung: Noch im Laufe des Jahres müssen seine letzten Studierenden fertig werden.
"Es wurde mal Zeit", kommentierte Andreas Butsch vom Studiengangsausschuss die Auszeichnung einer der letzten Absolventinnen seines Faches. Behindertenpädagogik werde meist "nur als Kostenfaktor" wahrgenommen. Ausschließlich ökonomischen Gründen gehorchte auch der Schließungs-Beschluss: Begleitet von Protesten und ohne Zustimmung des Akademischen Senats hatte Rektor Wilfried Müller von seinem "Letztentscheidungsrecht" Gebrauch gemacht. Sein Ja zum Hochschulentwicklungsplan besiegelte damals das Ende des hoch anerkannten Studiengangs und sicherte das Wohlwollen von Bildungssenator Willy Lemke (SPD).
Auch dessen Nachfolgerin Renate Jürgens-Pieper (SPD) sorgte sich im Grußwort vor allem um Nachwuchs in naturwissenschaftlichen Fächern, um den Wirtschaftsstandort Bremen, lobte Forschung als "Geldmotor" und freute sich, dass die Uni "den Ruf der 70er-Jahre losgeworden" sei. Entsprechend überwiegen nicht nur bei den gesponserten Sonderpreisen, sondern auch bei den regulären Ehrungen wirtschaftsnahe und Drittmittel-reiche Disziplinen: Neben Dissertationen zur Oxidation von Metallen (Produktionstechnik) oder zu einer Wirtschaftsverfassung jenseits des Staates (Jura) wirkt eine behindertenpädagogische Arbeit so exotisch, dass Laudator Rolf Drechsler, Konrektor für Forschung der Uni Bremen, sich auf Nachfrage genötigt sieht, zu betonen, dass "allein die Exzellenz Kriterium für die Auswahl" gewesen sei. Und dass kein Zusammenhang mit der Schließung des Studiengangs bestehe. Das hatte auch niemand vermutet.
"Es feut mich, dass mit meiner Arbeit ein geschlechterkritisches Thema geehrt wird, das nicht dem Mainstream entspricht", sagte Johanna Splettstößer vor der Preisverleihung im Festsaal des Rathauses durch die Bremer "unifreunde". Ihre Arbeit heißt "Paradoxieerfahrungen", Untertitel: "Zur Verbindung der Kategorien Behinderung und Geschlecht im Leben von Mädchen mit geistiger Beeinträchtigung". Jedes Mädchen sei gezwungen, sich mit den beiden gesellschaftlichen Kontruktionen Behinderung und Weiblichkeit auseinanderzusetzen, sofern es in diese Kategorien fällt, so Splettstößer. "Die Rolle als Mutter anzunehmen ist beispielsweise eine Anforderung, die sich aus der Weiblichkeit ergibt." Geistig beeinträchtigte Menschen würden jedoch von vielen als asexuell und ageschlechtlich wahrgenommen. "Sie sollen sich möglichst nicht fortpflanzen", so Splettstößer. "Dies erinnert an eugenische Vorstellungen."
Sie hat konkrete Vorschläge gemacht, wie in der Pädagogik Geschlecht nicht reproduziert, sondern reflektiert werden kann. Es fehle an den finanziellen Mitteln und am politischen Willen, dies in der Praxis umzusetzen. "Da geht es hauptsächlich um die Einstellung von Fachpersonal", so Splettstößer. Sie hofft, dass der Preis für ihre Diplomarbeit die Aufmerksamkeit für das Thema sozialer Konstruktion von Geschlecht und Behinderung erhöht und sich eine bedingungslose Barrierefreiheit auch in den Köpfen einstellen kann.
Der Bremer Studienpreis wird seit 1983 von der Gesellschaft der Bremer "unifreunde" für hervorragende Abschlussarbeiten und Dissertationen an Bremer Universität und Jacobs University vergeben. Geehrt werden Arbeiten aus den Natur- und Ingenieurs- sowie aus den Sozial- und Geisteswissenschaften. Jeder Fachbereich darf einer Kommission bis zu zwei Arbeiten vorschlagen. "Es war meines Wissens der erste Vorschlag aus unserem Fachbereich seit Jahren. Die Arbeit hebt sich positiv ab, durch den hohen Grad an theoretischer Durchdringung", sagte Swantje Köbsell vom Fachbereich Erziehungswissenschaften, die Splettstößers Diplomarbeit für den Preis vorgeschlagen hatte. Im vergangenen Jahr wurden an der Uni mehr als 3.000 Abschlüsse gemacht, und 300 Dissertationen verteidigt.
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