EDITORIAL : Die offene Wunde
Unvorstellbar. Unbegreiflich. So haben viele reagiert, als vor einem Jahr die Existenz und die Verbrechen des Terrortrios Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) bekannt wurden. 13 Jahre lang war der NSU raubend und mordend durchs Land gezogen, ohne dass die Sicherheitsbehörden seine Existenz bemerkt hätten. Neun Männer erschossen sie, weil ihnen deren Herkunft nicht in ihre rassistische Weltsicht passte, und später auch eine Polizistin. Bei zwei Bombenanschlägen verletzten sie mehr als 20 Menschen.
Die Sicherheitsbehörden aber suchten nicht nach Neonazis, sie beschuldigten die Opfer und ihre Familien, ermittelten in Richtung Ausländermafia, Schutzgeld, Drogen. Ein unfassbares Staatsversagen. „Unser 11. September“ hat Generalbundesanwalt Range das genannt. Inzwischen arbeiten vier Untersuchungsausschüsse an der Aufklärung der Umstände und Ursachen. Sie fördern beinahe im Wochenrhythmus neue Skandale zutage. Vier Verfassungsschutzchefs haben ihre Posten geräumt. Bundesinnenminister Friedrich hat eine Neonazi-Verbunddatei und ein Gemeinsames Abwehrzentrum gegen rechts installiert.
Was aber hat sich wirklich verändert? Was geht über politischen Aktionismus hinaus? Wie reagiert die Zivilgesellschaft, in der anders als nach den Anschlägen von Rostock, Mölln und Solingen eine seltsame Stille herrscht? Und warum wird nicht endlich offensiv über Rassismus auch und besonders in Behörden wie der Polizei gesprochen?
Diesen Fragen geht die taz auf den folgenden sechs Seiten nach. Im Gespräch mit Fadime Simsek, der Nichte des ermordeten Nürnberger Blumenhändlers, die über den Umgang mit der Mordserie und den Opfern resigniert sagt: „Es waren eben nur Türken.“ Bei einem Besuch in Zwickau, wo das Terrortrio zu Hause war. In einem Beitrag der Publizistin Mely Kiyak über die Schuld derjenigen, die sich unschuldig geben.
Vom Nationalsozialistischen Untergrund haben wir inzwischen eine Vorstellung. Zu begreifen, was das Trio aus Zwickau angetrieben hat und warum es 13 Jahre lang unerkannt bleiben konnte, fällt uns aber immer noch schwer.
SABINE AM ORDE