Dutzende Festnahmen in Türkei: Schlag gegen rechte Szene
Die Polizei hat bei einer landesweiten Razzia über 60 Personen festgenommen. Ihnen wird die Bildung einer Terror-Vereinigung vorgeworfen.
ISTANBUL taz "Staat gegen tiefen Staat" titelte das türkische Massenblatt Sabah in großen Lettern und alle anderen Zeitungen folgen dieser Interpretation. Bei einer spektakulären Razzia hatte die Polizei am Dienstag in Istanbul und anderen türkischen Städten über 60 Personen festgenommen, von denen 33 in Polizeihaft blieben. Bei den Festgenommenen handelt es sich um prominente Vertreter der nationalistischen, rechtsradikalen Szene der Türkei. Ihnen wird vorgeworfen, eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben, um das Land zu destabilisieren und ein autoritäres Regime einzuführen. In der Türkei nennt man diese nationalistischen Seilschaften "tiefer Staat".
Zu den Verhafteten gehört der Generalmajor a.D. Veli Kücük. Das ist der Mann, der in den 80er Jahren den militärischen Geheimdienst JITEM gegründet haben soll und auf dessen Konto etliche politische Morde vor allem an kurdischen Politiker im schmutzigen Krieg gegen die PKK gehen.
Mit dabei ist auch der Chef einer rechtsradikalen Juristenorganisation, Kemal Kerincsiz, auf dessen Konto die Prozesse gegen Orhan Pamuk, Elif Shafak und Hrant Dink gehen, weil sie angeblich das Türkentum beleidigt hatten. Auch eine bekannte rechte Publizistin und Kriminelle aus dem rechtsradikalen Milieu sind unter den Verhafteten.
Unter dem Codenamen "Ergenekon" - der Name verweist auf eine mythische Schlacht der Türken in Zentralasien - soll die Organisation Attentate geplant haben, darunter auf den Nobelpreisträger Orhan Pamuk und die prominenten kurdischen Politiker Ahmet Türk, Leyla Zana und Osman Baydemir, den Bürgermeister von Diyarbakir. Wichtiger noch sind aber Indizien, die die Polizei nach monatelanger Observation der Gruppe für deren mittelbare Tatbeteiligung an den Morden an Hrant Dink, dem italienischen Priester Andrea Santoro und den Anschlag auf das oberste Verwaltungsgericht im Mai 2006 gefunden hat. Dieser Anschlag hatte erheblich zur Verschärfung der Spannungen zwischen der Regierung Erdogan und dem säkularen Militär beigetragen, weil als Attentäter ein angeblicher islamischer Fundamentalist präsentiert worden war.
Seit Beginn der Mordserie an Priestern 2006 wurde in der Türkei gemutmaßt, dass auch dahinter nicht nur emotional aufgeputschte Jugendliche aus dem nationalistischen Milieu stecken. Zu viele Spuren führten in Polizei- und Gendarmeriekreise und offenbar zu Veli Kücük.
Auf die Spur der Organisation stieß die Anti-Terror Abteilung der Istanbuler Polizei Mitte letzten Jahres, als sie nach einem Tipp aus dem Milieu eine Wohnung durchsuchte, in der sich Waffen befanden. Seitdem wurden etliche Personen observiert, die zu den zwei damals in der Wohnung festgenommenen Personen Kontakt hatten. Am Dienstag schlug die Polizei in einer landesweiten Aktion zu. Über die Ergebnisse der Vernehmungen hat die Polizei eine Nachrichtensperre verhängt. In den kommenden Tagen will der zuständige Generalstaatsanwalt in Istanbul eine Erklärung abgeben.
Weil Premier Erdogan kurzfristig eine Reise zum Weltwirtschaftsgipfel nach Davos absagte, mutmaßt die Presse, dass er in einer kritischen Situation das Land nicht verlassen will. Öffentlich sagte er, der "Staat tut was getan werden muss".
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