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Durchtrennte Nerven reparierenSpinnfäden als Gewebeersatz

In der Medizinischen Hochschule Hannover hausen an die 100 große Spinnen. Zwei Forscherinnen wollen mit ihren Fäden durchtrennte Nerven wieder zusammenwachsen lassen.

Nephila-Spinnen liefern die Fäden für die Molekularbiologinnen an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Bild: imago/imagobroker

HANNOVER taz | Noch vor sechs Jahren war hier ein Wartezimmer. Menschen saßen unter den großen Fenstern, blätterten in Zeitschriften und hofften darauf, bald ihren Namen aus dem Lautsprecher zu hören. Heute hausen hier Spinnen. Mitten in der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Spinnennetze vom Lautsprecher zur Decke, Spinnennetze entlang der ockergelben Jalousien, Spinnennetze an den Fenstern, in jeder Ecke. Als hätten Menschen diesen Raum vor fünfzig Jahren sich selbst überlassen. In den Netzen sitzen ganz gemütlich die Gliedertiere, die etwa so groß sind wie die Handfläche eines Erwachsenen.

"Unsere Spinnen sind eher faul", sagt Kerstin Reimers-Fadhlaoui, "sie bleiben immer auf einem Fleck sitzen, bauen dort ein Netz und warten auf Futter." Die Molekularbiologin kam vor zehn Jahren nach Hannover. Zusammen mit ihrer Kollegin Christina Allmeling forscht sie auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie. Sie versuchen bessere Wege zu finden, um Menschen nach Verbrennungen, Haut- und Nervenverletzungen zum Beispiel wieder zu einem Gesicht zu verhelfen.

Den beiden Frauen fiel schnell auf: Es fehlt an gutem Material für die Mikrochirurgie, einem, das robust genug ist, um damit Sehnen und Augen zu flicken, und dennoch nicht wie herkömmlicher chirurgischer Faden aus Kunststoff vom Körper abgestoßen wird. Mit so einem Stoff könnte man vielleicht sogar Nerven reparieren, die durch Tumoren oder Unfälle zerstört wurden, könnte damit Beine wieder zum Gehen, Finger wieder zum Fühlen bringen. Das war ihre Vision.

Die zwei begaben sich also auf die Suche. Sie durchstöberten Fachliteratur, lasen Bücher und recherchierten im Internet. Und stießen dabei auf eine erstaunliche Geschichte: Südlich des Äquators, in Polynesien, verwendeten Ureinwohner lange Zeit die Netze der Radnetzspinne Nephila zum Fischen. Wenn diese Spinnfäden sogar Fische auffangen können, dachten sie sich, müsste das Material sich auch für Operationen eignen. Diese Spinnfäden wollten sie haben.

Bild: taz

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Zwei Zutaten

Die Nerven: Im menschlichen Körper befinden sich etwa 100 Milliarden Nervenzellen. Sie leiten Informationen vom Gehirn zum Beispiel zu Muskelzellen, um den Muskel zu bewegen. Oder von einer Hautzelle zum Gehirn, um ein Gefühl zu vermitteln. Oder sie verknüpfen sich im Gehirn in neuronalen Netzwerken, um Informationen zu speichern und sie weiterzuverteilen. Die Informationsübertragung geht schnell: Menschliche Nerven können eine Leitungsgeschwindigkeit von 430 km/h erreichen.

Der Faden: Spinnfäden sind elastisch wie Nylon und sehr reißfest. Kaum ein anderes Material erreicht diese Eigenschaften. Sogar die US-Armee versucht, das Material künstlich herzustellen. Militärs träumen von schusssicheren Westen, die sich wie ein T-Shirt tragen lassen. Könnte man Spinnfäden in großen Mengen produzieren, sollen gar Flugzeuge damit gestoppt und so Landebahnen abgesichert werden. Auch in Autostoßstangen könnten sie eingesetzt werden.

Reimers-Fadhlaoui und Allmeling telefonierten deutsche Zoos ab und hatten Glück: Im Stuttgarter Zoo hingen Nephila an der Decke über den Krokodilen. Die Stuttgarter überließen den beiden Forscherinnen vier davon. Die Spinnen zogen nach Hannover. Ihre Forscherkollegen dort fanden das Projekt ein bisschen lustig - und irgendwie eklig.

Mittlerweile zweifelt niemand mehr: 2006 konnten Reimers-Fadhlaoui und Allmeling nachweisen, dass Spinnfäden extrem belastbar und trotzdem elastisch sind. Im Jahr 2008 zeigten sie in Laborversuchen, wie Spinnfäden Nervenzellen reparieren könnten. Anfang 2010 veröffentlichten sie außerdem, dass Körperzellen auf Spinnfäden besonders gut wachsen können.

Spinnfäden sollen bald auch als Gewebeersatz erprobt werden, sie könnten künftig auch Haut- und Fettgewebe ersetzen. Für ihre Arbeit gewannen Reimers-Fadhlaoui und Allmeling mehrere renommierte Forschungspreise. Nächste Woche wird die Spinnseidengruppe schließlich ihr jüngstes Forschungsprojekt veröffentlichen: Sie schafften es, mithilfe ihrer Spinnfäden Nervenzellen bei Schafen wieder zusammenwachsen zu lassen.

Die Luft ist feucht in dem ehemaligen Wartezimmer, die Temperatur wohnzimmerwarm. In der Mitte zirpen Grillen in einem Terrarium - das Futter der Spinnen. Zweimal in der Woche kommt eine Biologiestudentin vorbei, fischt mit einer Pinzette ein paar Grillen heraus, teilt sie und wirft sie mit Wucht in die Netze.

Die Spinnen müssen die Vibration der Beute im Netz spüren, dann kommen sie angeschossen. Reimers-Fadhlaoui und Allmeling haben mit Paketklebeband trockene Äste und Gestrüpp an den Wänden befestigt. Das brauchen die Spinnen, um ihre Netze zu bauen.

"Die anderen Forscher schleppen immer was Tolles durch die Gegend", erzählt Reimers-Fadhlaoui, "wir hieven Äste durch die Gänge." Immerhin gelten Nephila als harmlos, die Forscherinnen müssen nicht fürchten, dass die Spinnen beißen oder sich untereinander bekämpfen.

Was Allmeling und Reimers-Fadhlaoui mit ihren Spinnfäden langfristig anstreben, wird in der Medizin dringend gebraucht: Nach Unfällen, durch Quetschungen oder nach einer chirurgischen Tumorentfernung werden oft Teile des sogenannten peripheren Nervensystems, alles außerhalb von Gehirn und Rückenmark, durchtrennt oder komplett entfernt.

Ohne den Impuls der Nerven können Hände taub, Beine bewegungsunfähig oder Augen blind werden. Fehlen große Stücke, verkümmern die Nerven nach etwa eineinhalb Jahren irreparabel, Muskeln werden dann für immer unbrauchbar.

Dabei würden Nerven prinzipiell wieder zusammenwachsen - sie finden nur den Weg nicht zueinander. "Nerven brauchen Orientierung", sagt Forscherin Reimers-Fadhlaoui. Deshalb versuchen Mediziner ihnen den Weg zu zeigen. Bisher aber gelingt das selbst über kurze Strecken nur mäßig erfolgreich: Oft funktionieren Hände und Sinne nach einer Operation nicht mehr vollständig.

Mediziner erhoffen sich deshalb seit Langem eine Methode, mit der größere Nervenlücken repariert werden können. Die Spinnen könnten dazu eine Nervenwachstumhilfe liefern. "Wir hoffen, dass in Zukunft Spinnfäden kaputte Nervenzellen in Menschen reparieren werden", sagt Forscherin Reimers-Fadhlaoui.

22 Nephila wohnen in dem ehemaligen Wartezimmer, insgesamt halten Reimers-Fadhlaoui und Allmeling in weiteren Räumen des alten Chirurgietrakts an die hundert Spinnen. Jede trägt einen Namen. Ludmilla sitzt in der Ecke neben der Eingangstür. Unter ihr hängt auf einer Korkwand der Lageplan: Kleine schwarze Zeichnungen verraten, welche Spinne in welcher Ecke wohnt.

Daneben liegt das sogenannte Kurbelbuch. "Darin tragen wir ein, welche Spinne wann gemolken wurde", erklärt Allmeling, "wenn Ludmilla zum Beispiel in einer Woche dran war, hat sie in der nächsten frei".

Denn um an die kostbaren Fäden der Spinnen zu gelangen, entwickelten Kollegen von der Leibniz Universität eigens eine Spinnfadenkurbelmaschine. Die funktioniert so: Die Spinne wird aus dem Netz gefischt und auf ein Schaustoffpolster gelegt. Darauf wird ein Stück Verbandstuch befestigt, sodass nur noch das Hinterteil der Spinne hervorguckt. Die Spinne kann sich nicht mehr bewegen.

Nun muss man die fast durchsichtige Halteleine entdecken und vorsichtig aus ihrer winzigen Drüsenöffnung pulen. Der Anfang des Spinnfadens wird dann um einen Flügel des Kurbelgeräts gewickelt. Ein Knopfdruck, und das Gerät dreht sich ganz langsam im Kreis und fädelt dabei den Spinnfaden auf.

"Die Spinne denkt jetzt, sie fällt vom Baum", sagt Christina Allmeling. An die 200 Meter Faden entlocken die Forscher so ihren Schützlingen bei jeder Kurbelung. Am Ende spannen sich die Spinnfäden auf dem Gerät wie die Pferdehaare entlang einem Geigenbogen.

Um damit nun Nerven den Weg zu ihrem anderen Ende zu zeigen, haben sich die beiden Forscherinnen ein besonderes Konstrukt ausgedacht: Sie nehmen ein Bündel ihrer gewonnenen Spinnfäden, desinfizieren es mit Dampf und ziehen es in eine röhrenförmige Schweinevene ein.

#Operiert man dieses nun in die Lücke des Nervs, kann er durch die Vene wieder zusammenwachsen. Die Spinnfäden dienen dabei vor allem als Platzhalter, ohne sie würden sich Narben im Gewebe bilden, durch die sich der Nerv nicht graben kann. Auch als Gleitschiene dienen die Fäden: "Irgendwie wollen Körperzellen auf Spinnfäden entlangrutschen wie auf kleinen Schienen", sagt Reimers-Fadhlaoui.

Schafe, denen in Tests ein sechs Zentimeter langes Venen-Spinnseiden-Konstrukt in den Unterschenkel eingesetzt wurden, konnten wenige Monate nach der Operation wieder normal laufen. In den Tests verursachten Spinnfäden auch keine Entzündungen oder allergische Reaktionen wie anderes Material. Nach einigen Wochen baute der Körper sie wieder ab. Wahrscheinlich besitzen die Fäden sogar eine antibakterielle Wirkung. Auch das soll bald genauer untersucht werden.

Das Venen-Spinnfaden-Konstrukt hat sich die Medizinische Hochschule patentieren lassen. Ob das alles auch bei Menschen klappt, muss noch untersucht werden. Bis Unfallpatienten womöglich von Spinnfäden profitieren, dürfte es noch eine Weile dauern. Ludmilla und ihre Kolleginnen werden also noch ein paar Jahre im Wartezimmer krabbeln und Netze bauen.

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5 Kommentare

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  • H
    Hann0s

    @ Maorifreund: Deine berechtigte Kritik an der Pharma-Industrie und dem Patentrecht zum trotz, ich finde es gut, das es wissenschaftlich erwiesen wird, bevor es als Medikament auf den Markt geworfen wird. Wenn man in der Medizin nicht wissenschaftlichen Maßstäben folgt, wird nichts mehr reproduzierbar oder überprüfbar, von Kreuz- und nebenwirkungen mal abgesehen.

  • M
    Maorifreund

    Ja, Spinnweben helfen alle Wunden zu heilen und sorgen dafür, dass getrennte Nerven besser zusammenwachsen. Ja, sie wirken auch antibakteriell.

    Genau deswegen, genau dazu und mit dieser Beschreibung verwenden zum Beispiel die Maories in Neuseeland Spinnweben seit zig Generationen.

     

    Aber "forscht" nur weiter bis schon geklärte Dinge auch "wissenschaftlich" klar sind und macht sie schön zu "eurem" Eigentum. Am besten versucht ihr dann eine patentierte synthetische Herstellung und verbietet gleichzeitig den Einsatz ungeprüfter Naturmaterialien. So kann man richtig reich werden und berühmt dazu, ehrlich.

  • J
    Justav

    Nun klaut man auch noch den Spinnen ihr Know-how.

    Mal sehen, wer sich das Patentrecht sichert...

     

    Die sind aber auch süß:

    http://www.spidercity.eu/Phoneutria%20nigriventer%20gro%C3%9F.JPG

    http://de.academic.ru/pictures/dewiki/80/Phoneutria_nigriventer.jpg

  • F
    FAXENDICKE

    Klingt sehr vielversprechend. Parallel dazu sollten sich die Forscherinnen schon mal daranmachen ihre Spinnwebproteine biotechnisch zu produzieren, denn sofern es auch beim Menschen funktioniert, werden bestimmt Unmengen von dem Material benötigt. Wäre nebenher auch ein lukratives Patent. Studien in diese Richtung gibt es übrigens schon, denn Spinnweben haben extrem positive Materialeigenschaften, wie geringes Gewicht, Elastizität und extrem hohe Belastbarkeit.

  • D
    dottildedot

    Ich würde mir wünschen, daß ein Hinweis auf ABS (Access and Benefit sharing) in solchen Artikeln Standard wird.

     

    Woher stammt diese /Nephila/-Art? Wer hat sie, und wie, besorgt? Hat die hier ganz allgemein als polynesisch bezeichnete Herkunft für dir Hannoveraner eine Bedeutung oder ignorieren sie dieses Bereich?

     

    Zum Kontext des Kommentars: Nephila-Arten gibt's z.B. auch auf Madagaskar. Das Madagaskar-Immergrün /Catharanthus roseus/, Kinderläukaemie und Eli Lilly sind ein beliebtes Vorlesungsbeispiel für Biopiraterie.