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Archiv-Artikel

Durchschnittsalter: über siebzig

Familie Alemann gibt seit 116 Jahren das „Argentinische Tageblatt“ heraus. Eine Erfolgsgeschichte. Doch der Zeitung sterben die Leser weg. Das Ende zeichnet sich ab

AUS BUENOS AIRES OLIVER WEGNER

„Das können Sie mal schreiben“, sagt Eduardo Alemann, 83, Herausgeber des Argentinischen Tageblatts, nachdem er einen kleinen Vortrag von der Auswanderung aus der Schweiz im 19. Jahrhundert („ein bettelarmes Land damals“) bis hin zur aktuellen Wirtschaftskrise in Argentinien („Ich kann das Wort Sparflamme nicht mehr hören!“) beendet hat. „Schreiben Sie mal: Es ist wohl ziemlich einzigartig, dass eine Zeitung hundertsechzehn Jahre lang im Familienbesitz ist.“

Sicher, das könnte die Geschichte sein. Sie würde handeln vom Berner Journalisten Johann Alemann, der 1889 in Buenos Aires das Argentinische Tageblatt gründete. Sie würde handeln vom Verlag Alemann S. R. L., der Klagen, Wirtschaftskrisen, Anzeigenboykotte und ein Verbot überstand und zu einem Unternehmen mit zeitweise 300 Mitarbeitern sowie eigener Druckerei aufstieg. Sie würde handeln von Eduardo, Roberto und Juan, der heutigen vierten Generation Alemann, die in einer wunderschönen Villa im Zentrum von Buenos Aires sitzt und jeden Samstag eine Zeitung für die deutschsprachige Gemeinde herausgibt. Aber ist das schon die ganze Geschichte?

Vom Erdgeschoss geht man die breite Wendeltreppe hoch, lässt den Blick über große Kamine, teure Spiegel und bunte Bleiglasfenster gleiten – und landet irgendwann im verwinkelten zweiten Stock, wo die drei Herausgeber ihre Büros haben. Gleich neben dem Wintergarten sitzt Eduardos Vetter Roberto Alemann, 82, ehemals Wirtschaftsminister Argentiniens (1961/62 und 81/82), Botschafter in Washington (1962/63) sowie Professor für Wirtschaftspolitik. In seinem Anzug, der noch immer sitzt wie angegossen, sieht er aus wie der ewige Minister. Wie stolz er wirkt mit Bücherschrank und Schreibtisch, wie sicher. Und doch: Den Eindruck von Verbitterung wird man nicht los.

Seitdem er im März 2002, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, in der Fußgängerzone tätlich angegriffen wurde („Grobe Leute liefen mir nach und stießen mich“), verlässt Roberto Alemann sein Büro nur noch selten. Genauso wie er jetzt auf Fernsehinterviews verzichtet, mit denen er, der Wirtschaftsliberale, die von Arbeitslosigkeit und Geldentwertung zerschlissenen Menschen hier provozieren könnte. Roberto Alemann hat wieder mehr Zeit für seine Zeitung. Nachdenklich schaukelt er in seinem Schreibtischstuhl und sagt Sätze wie: „Das Tageblatt ist dermaßen labil.“

Der Glanz der Firma Alemann S. R. L. ist nur noch äußerlich. Die Villa ist angemietet und im Grunde viel zu groß für die verbliebenen 25 Beschäftigten („mit Laufbursche“). Sie dient lediglich den Repräsentationsinteressen der Herausgeber: Roberto und sein Bruder Juan sind nebenher als Unternehmensberater tätig, Eduardo („Don Pancho“) hat sich als Komponist einen Namen gemacht. Im konservativen Teil der kleinen argentinischen Oberschicht hat der Name Alemann einen guten Klang, aber die Zeitung profitiert davon nicht mehr. Die Zeiten, da das Blatt jeden Morgen auf dem Tisch des Staatspräsidenten lag, sind lange vorbei. Die Zahlen: Seit 1981 erscheint das Argentinische Tageblatt nur noch wöchentlich. 1992 wurde das große Verlagshaus samt Druckerei geschlossen und verkauft. 2000 erfolgte die Umstellung auf Kleinformat. Seit Fabian Ernst mit 73 an Krebs starb, besteht die Redaktion nur noch aus zehn Mitarbeitern – die beiden Praktikanten und drei Herausgeber eingerechnet. Mal funktioniert die Heizung nicht, mal wird mitten am Tag der Strom abgestellt, mal dürfen keine Handys antelefoniert werden. Verlagsgeburtstag? Gestrichen. Weihnachtsfeier? Fand zum letzten Mal vor fünf Jahren statt.

„Was willst du machen, wenn die Leute wegsterben?“, fragt Jörg Wolfrum, 36, Sport- und Politikredakteur. „Ich bin seit fünf Jahren hier, seitdem sind fünf Mitarbeiter gestorben – und so ist das auch mit den Lesern.“ Stefan Kuhn, 43, der leitende Redakteur, schätzt das Durchschnittsalter der Leser („gebildet, viele der jüdischen Leser sind Akademiker“) auf siebzig Jahre. Es sind Menschen, die vor oder kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutschland oder Österreich eingewandert sind und deren Kinder nicht mehr das Argentinische Tageblatt kaufen, sondern La Nacion oder Clarín, die beiden großen argentinischen Tageszeitungen. Das natürliche Ergebnis: Die Auflage sinkt. Als Kuhn vor zwölf Jahren als Volontär beim Tageblatt anfing, lag die Auflage noch bei etwa 15.000 Exemplaren. Heute beträgt sie 10.000. Offiziell.

„Das Ende ist absehbar“, sagt Kuhn mit jener Nüchternheit, die ihn vor dem Verzweifeln bewahrt. Was soll er auch tun? Die Lage ist schwierig, so oder so. In Deutschland wäre Kuhn vermutlich ein sicherer Kandidat für die Arbeitsagentur. Hier in Buenos Aires hat er immerhin noch eine Anstellung, eine anständig bezahlte dazu, jedenfalls für argentinische Verhältnisse. Wie lange noch? Bis zum bitteren Ende, bis es nichts mehr gibt, weder Käufer noch Anzeigen. Die Anzeigenzahlen hat Kuhn einmal ausgerechnet. Sie sehen so schlecht aus, dass man darüber lachen oder weinen möchte. In den Sondernummern, also bei Staatsbesuchen aus Deutschland, am Schweizer Nationalfeiertag oder am Tag der Deutschen Einheit, besteht die Zeitung je zur Hälfte aus Texten und Werbung. Ansonsten beträgt der Reklameanteil um die zehn Prozent. Einigermaßen gute Kunden sind Optikergeschäfte, die „Deutsche Bestattungsgesellschaft Raumberger“ und neuerdings auch Tourismusfirmen, die auf den Urlaub-in-Argentinien-Zug aufspringen. Wie lange noch?

Wenn Juan Alemann, 77, der ehemalige Schatzsekretär Argentiniens (1976–81), diese Zahlen hört, kommt ihm die Galle hoch. „Schauen Sie, die Wirtschaftsseiten, die ich zusammen mit meinem Bruder Roberto schreibe, das ist ein Dienst, den wir den deutschsprachigen Firmen hier liefern. Da steht praktisch alles drin, was man über die argentinische Wirtschaft wissen muss. Dafür erwarten wir, dass die Unternehmen uns unterstützen. Früher war das so, ja. Aber heute? Die Firmen sind nicht mehr großzügig. Die denken nicht mehr als deutsche oder Schweizer Unternehmen, die mit der deutschsprachigen Gemeinde verbunden sind.“

Wie ihn das ärgert! Genauso wie die Sache mit der Militärdiktatur (1976–83), die seinen Bruder und insbesondere ihn – er war fünf Jahre Schatzsekretär, also eine Art Finanzminister – auf dem Höhepunkt des politischen Lebens sah. Mehr denn je wird heute in Argentinien über dieses dunkle Kapitel diskutiert. Mehr denn je wird versucht, die damals verantwortlichen Militärs vor Gericht zu bringen. Mehr denn je müssen sich auch Expolitiker wie Juan Alemann unliebsame Fragen gefallen lassen. „Wenn wir die Militärregierung nicht gehabt hätten, wären wir heute Kolumbien oder Kuba“, verteidigt sich Juan Alemann. Das Wort Diktatur vermeidet er. „No, no, no“, sagt er und wedelt mit dem Zeigefinger hin und her. „Die einzige Diktatur, die ich erlebt habe, war die unter Perón. Die Militärregierung war nur formell eine Diktatur. Die Justiz hat funktioniert, die Presse war frei, und die Einwohner wurden nicht belästigt.“

Die Einwohner wurden nicht belästigt? Und was ist mit dem „dirty war“, dem schmutzigen Krieg der Militärs, in dem zwischen 7.000 und 30.000 Menschen – eine genaue Zahl gibt es bis heute nicht – ums Leben gekommen sind? „Schauen Sie“, antwortet Juan Alemann, „die meisten von ihnen waren Terroristen. Die musste man bekämpfen und ausmerzen. Die These, dass es ein Kampf gegen Andersdenkende war, stimmt einfach nicht.“

Wie aufgeregt Juan Alemann hinter seinem Schreibtisch sitzt und akribisch die Waffe aufzeichnet, mit der 1979 ein Attentat auf ihn verübt wurde („105 Schüsse auf mein Auto, die Militärs sagten damals, es ist ein Wunder, dass ich noch lebe“). Vor nicht allzu langer Zeit gab es im argentinischen Fernsehen eine Dokumentation über die Fußball-Weltmeisterschaft 1978 in Argentinien, die gleichzeitig auch eine Dokumentation über den blutigen Krieg der Militärs war. Am Ende wurden Bilder vom jubelnden argentinischen WM-Star Mario Kempes überschnitten mit Bildern von argentinischen Müttern, die bis heute – fast 28 Jahre später! – nach ihren Söhnen suchen. Ob er Schuldgefühle habe wegen der vielen Toten? Das Interessante ist nicht, dass Juan Alemann die Frage klar und kurz verneint, sondern dass er vorher schlucken muss – wie jemand, der einen dicken Kloß im Hals hat. Den man irgendwie erwischt hat.

Rational kann ich das gar nicht erklären, was wir hier machen“, sagt Juan Alemann. „Mein Bruder Roberto sagt ja, dass wir die Zeitung wie eine Stiftung verwalten. Da ist was dran. Wir verdienen nichts! Wir machen das aus Tradition, aus Anhänglichkeit und aus Fürsorge gegenüber unseren Mitarbeitern. Das ist ein Opfer, das wir bringen.“ Schon kursiert das Gerücht, dass die Villa nicht mehr zu halten sei. Wenig später wird die Redaktion tatsächlich umziehen – in den dritten Stock eines Geschäftshauses.

Letzte Frage, Herr Doktor Juan Alemann. Wie sieht die Zukunft des Familienbetriebs Alemann S. R. L. aus? Wird es eine fünfte Herausgebergeneration Alemann geben? Wird das Argentinische Tageblatt weiterleben? Kein langes Überlegen. „Wissen Sie, wir sind schon ziemlich alte Herren, es geht bald zu Ende mit uns. Und nach uns kommt nichts mehr. Im Familienkreis haben wir mal darüber gesprochen, ob meine Tochter Flavia das weitermacht, sie war Journalistin bei La Nacion und arbeitet jetzt in einer Presseagentur. Aber das hat gar keinen Sinn. Wir könnten ihr das gar nicht finanzieren. Als kommerzielles Unternehmen ist das Tageblatt nicht mehr führbar. Von daher: einstimmig abgelehnt.“

Eduardo „Don Pancho“ Alemann machte den Anfang. Er stürzte in seinem Haus und starb an den Folgen eines Schädelbasisbruchs. Der Grabredner auf dem Deutschen Friedhof von Buenos Aires erklärte: „Der Tod ist eine harte Realität.“ Die komplett versammelte Belegschaft des Argentinischen Tageblatts schwieg gefasst und druckte einen großen Nachruf. Man macht weiter. Was soll man auch sonst tun?

OLIVER WEGNER, 36, ist Jurist und freier Autor. Er lebt in Berlin