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Durch Steckdosen in DDR-Schlafzimmer

■ Volkskammerabgeordnete geißelten „Stromvertrag“ / Mammutprogramm mit brisanten Themen

Berlin (adn/taz) - Insgesamt 17 Punkte standen am Freitag auf dem Marathonprogramm der Volkskammer für ihre 32. Tagung in Berlin. Nach einer gemeinsamen Erklärung aller Fraktionen, in der die Okkupation Kuwaits durch den Irak verurteilt wurde, begann die aktuelle Stunde. Sie war geprägt von Kritik an dem vor wenigen Tagen abgeschlossenen „Stromvertrag“ zwischen der DDR und drei bundesdeutschen Energieriesen. Reinhard Weis (SPD) bemängelte vor allem, daß mit dem Stromvertrag den Kommunen die Energieversorgung und somit eine wichtige langfristige Einnahmequelle genommen werde. Bürgermeister und Landräte sollten bis 20. September Eigentumsansprüche an regionalen Energieproduktionsstätten anmelden, forderte der Abgeordnete Ernst Dörfler vom Bündnis 90/Grüne. Seiner Ansicht nach wollen „PreussenElektra und Co. den Zugriff bis zu den Steckdosen in den DDR -Schlafzimmern“.

Die bei Redaktionsschluß erst beginnenden Beratungen hatten unter anderem folgende Themen: Erlaß der Schulden für die ehemalige volkseigene Wirtschaft sowie genossenschaftliche und private Betriebe; die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit bzw. die Entlassung von früheren Angehörigen des MfS aus öffentlichen Ämtern. Außerdem ging es um die Errichtung von Krankenkassen, die Gewährung von Steuererleichterungen für mittelständische Betriebe, die Rechtsstellung gleichgeschlechtlich orientierter Bürger sowie die Unterstützung landwirtschaftlicher Unternehmen und der Aufbau eines Liegenschaftsdienstes.

Für Zündstoff wird zweifellos der Antrag der Fraktion der DSU in der Debatte sorgen, die Volkskammer solle ein Gesetz zur Enteignung der Grundvermögen von Parteien und Massenorganisationen beschließen. Der Gesetzentwurf, der bereits auf entschiedenen Widerstand der Gewerkschaften in der DDR gestoßen ist, soll in ersten Lesung behandelt und dann an die Ausschüsse überwiesen werden.

Unterdessen hat Bundeskanzler Helmut Kohl seinen Besuch in der CDU/DA-Fraktion der Volkskammer am Freitag als „ungewöhnlichen Tag“ bezeichnet. Der überwältigte Kanzler konnte nur sagen: Endlich ist es soweit.

In bester Manier präsentierte er sein historisches Wissen. Es sei „eine der besten Erfahrungen der neuen Geschichte, daß zum ersten Mal in der modernen Geschichte Europas die Einheit eines Landes vollzogen wird ohne Krieg, ohne blutige Revolution, ohne Tod und Leid und mit dem Zuspruch und mit der Bejahung aller Nachbarn in Ost und West“. Mißtrauen gegenüber dem neuen großen Deutschland zerstreute er mit seiner Lieblingsfloskel von der besonderen Verantwortung der Deutschen.

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