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Archiv-Artikel

„Du, komm herauf!“

Gisela May war das kulturelle Aushängeschild der DDR par excellence und als Brecht-Interpretin auch im Westen umjubelt. Acht Jahre nach ihrer fristlosen Entlassung beim Berliner Ensemble singt sie nun wieder am BE. Eine Hausbegehung mit Stardiseuse

Interview von PHILIPP GESSLER

taz: Frau May, wir würden hier im Berliner Ensemble gern in die ehemalige Garderobe von Helene Weigel, die ja auch Ihre war, gehen – aber die ist leer geräumt worden.

Gisela May: Leider. „Sologarderobe“ nannte sich das. Da waren zwei Schminktische nebeneinander. Wenn entweder die Weigel oder ich die Hauptrolle spielten, saß man da praktisch immer allein. Die ist umgebaut worden. Wir hatten nur eine Toilette für alle Kolleginnen. Das ist jetzt natürlich viel besser.

Dafür ist das Flair nun weg.

Ich weiß es nicht. Es war nie ein großes Flair hier. (öffnet die Tür zum Garderobenflur) Hier hatte die Weigel ein Schild dran: „Vorsicht! Tür knallt!“ Es musste doch leise zugehen auf den Gängen, die zur Bühne führten. Ich fand das Schild immer so schön. (lacht, versucht, eine Tür zu öffnen) Hier war unsere Sologarderobe. Da ist jetzt die Requisite drin. In den Garderoben durfte nicht geraucht werden. Dafür (zeigt auf eine andere Tür) hatten wir ein Rauchzimmer, da konnten sich die Kollegen benebeln.

Eine Sologarderobe für zwei Leute ist nicht besonders sozialistisch, oder?

Was heißt sozialistisch? Im Theater steht derjenige, der die Hauptrolle spielt, vorne. Er muss für das ganze Theater, das Ensemble, kämpfen. Und da es meistens um sozialistische Inhalte ging, wenn es Brecht betraf, war natürlich das Gesamte durchaus sozialistisch. Außerdem waren wir, die wir die Hauptrolle hatten, psychisch und physisch stärker gefordert. In den Pausen mussten wir ausruhen, um neue Kraft zu schöpfen. Ich habe um eine Liege gekämpft, damit ich mich in den Pausen mal lang machen konnte. Das hat lange gedauert, bis Frau Weigel zugestimmt hat, dass in unsere gemeinsame Garderobe eine Liege kam.

Und die anderen waren neidisch.

Nein, nein, die die kleineren Rollen spielten, hätten gar keinen Bedarf gehabt, sich lang zu machen. Das ist eine unglaubliche Kraftanstrengung, wenn Sie zweieinhalb Stunden auf der Bühne stehen als Mutter Courage. Dass man sich in den Pausen dann mal hinlegt, ist nur legitim. Dafür sind die Pausen ja da.

Wollen wir weitergehen?

Ja, ich wollte Ihnen noch was über die Bühne erzählen. (an die Pressesprecherin:) Dürfen wir auf die Bühne?

Pressesprecherin: Da wird gerade gebaut.

Ich will aber das nicht alles mitschleppen. (hängt ihren Mantel an einen Bügel) Hier wird nicht geklaut – und der Mantel schon gar nicht. Den hängen wir jetzt einfach mal hier hin. Den ollen Schirm auch. (tippt auf eine Tür) Bei meinem Kurt-Weill-Abend, sitze ich immer in dieser Garderobe.

In Ihrem Buch beschreiben Sie die Garderobe in Sydney: Das scheint die schönste gewesen zu sein.

Von der Aussicht her auf alle Fälle: das wunderbare Opernhaus, ins Meer hinaus gebaut. Meine riesige Garderobe mit einer großen Glaswand, und dahinter fuhren unmittelbar die großen Ozeandampfer an mir vorüber! Ich hätte den Touristen zuwinken können. Unglaublich. Und abends die beleuchtete Silhouette von Sydney. Also, ich hätte mich lieber den ganzen Abend in der Garderobe aufgehalten, als diesen schweren Weg auf die Bühne zu machen.

Angstschweiß ist in jeder Garderobe – gleichgültig, wie schön sie ist?

Bis zum Schweiß geht es bei mir nicht. Aber ein leichtes nervöses Zittern ist schon da. Gerade wenn man im Ausland ist und, wie in Sydney, auf eine riesige Bühne geht. Da gehört schon unheimlicher Mut dazu, sich das zuzutrauen. Aber sowie man dann diese paar oder vielen Schritte bis in die Mitte der Bühne gemacht haben, ist schon die meiste Angst weg. Dann kommen die Inhalte, die man vermitteln will, dann kommt die Konzentration, die nötig ist, um alles gut zu machen.

Sind eigentlich die Texte noch frisch, wenn Sie sie zum hundertsten Mal singen?

Immer. Das Publikum ist ja auch immer anders. Es ist jedes Mal eine Art Kampf: Kriege ich sie schnell? Sind sie nur neugierig? Oder haben sie schon was von mir gehört? Kommen Sie mir entgegen? Als ich hier im Berliner Ensemble nach acht Jahren wieder auf der Bühne stehen konnte, nachdem mir gekündigt worden war, konnte ich minutenlang gar nichts sagen, weil mir ein so einmaliges Wiedererkennen und Freude aus dem Zuschauerraum entgegenkamen.

Nach dreißig Jahren am Berliner Ensemble, Sie schreiben es in Ihrem Buch, wurde Ihnen innerhalb von fünf Minuten gekündigt. Das ist brutal. Hat man das erklärt, oder hat man sich im Nachhinein entschuldigt?

Das war sehr brutal. Aber da diese Herren heute nicht mehr verantwortlich oder gar nicht mehr da sind, gibt es auch keinen, der sich hätte entschuldigen können. Es war ja nicht Herr Peymann, der mich gekündigt hat. Im Gegenteil: Der hat mich ja wieder auf diese Bühne gelassen.

Sie hätten ja auch sagen können: Wo ich einmal so rausgeschmissen werde – da gehe ich nicht mehr hin.

So weit gehe ich nicht. Das Haus ist es, in dem ich arbeiten möchte. Hier auf dieser Bühne war die Uraufführung der „Dreigroschenoper“. In diesem Zuschauerraum lauerte das hellwache Berliner Publikum schon 1928 auf die Premiere. Diese Bühne ist authentisch. Dass der Brecht nach Emigration und Krieg dann wieder hier einziehen konnte und fast nichts im Gebäude verändert hat, ist eine unglaubliche Geschichte.

In Ihrem Buch schreiben Sie zur Wende in Europa: „Was ist gegen diese fundamentale Neuordnung in Europa eine einzige persönliche Enttäuschung?“ Meinten Sie damit Ihre Entlassung?

Ja. Unter anderem.

Also wurden Sie entlassen, weil Sie nach der Wende weiter Sozialistin bleiben wollten?

Das hat man mir nicht gesagt. Man sagte mir nur, dass ich jetzt Rentnerin sei.

Was aber war der wahre Grund?

Ich repräsentierte zu sehr dieses Theater, das über viele Jahre Inhalte vermittelte, die Brecht als seine Philosophie bezeichnete: eine humanistische Weltsicht. Damit hat es wohl zusammengehangen. Die Neuen wollten wohl eine andere Art Theater machen. Sie wollten ja kein realistisches Theater mehr. Sie wollten keine Identifizierung des Publikums mit den Gestalten auf der Bühne. Sie wollten etwas Gebrochenes zeigen: Das Chaos, die Brutalität der Gesellschaft sollte in übersteigerter Form auf die Bühne, weil sie glaubten, dass das die Leute aufrüttelt. Meiner Meinung nach aber erreicht man so nur eine weitere Abstumpfung. Bei Brecht gibt es eine Formulierung: von der „so überaus ansteckenden Krankheit der Unempfindlichkeit“.

Was kann man gegen eine solche Abstumpfung machen?

Na, das ist doch unsere Chance, auf der Bühne wieder von dieser Unempfindlichkeit wegzukommen, die durch Fernsehen und Presse noch gesteigert wird. Wir können die Menschen durch Verstand und Gefühl zu Fragen provozieren. Brecht hat ja nie Antworten gegeben.

Sie schreiben, Ihr letzter Auftritt in der Rolle der „Mutter Courage“ sei Ihr bewegendstes Erlebnis als Schauspielerin gewesen. Können Sie davon erzählen?

Man hatte in der Presse veröffentlicht: Dies ist der letzte Auftritt von Gisela May als „Mutter Courage“. Es war missverständlich formuliert, so dass man glauben konnte, ich spiele zum letzten Mal überhaupt Theater – wäre ja denkbar gewesen: „Jetzt bin ich 65, jetzt höre ich auf.“ Es war ein Abschied des Publikum von mir und umgekehrt. Vor ausverkauftem Haus! Zunächst war am Ende der Vorstellung ein riesiger Jubel. Plötzlich sah ich im Publikum jemanden mit einem Taschentuch, mit Tränen in den Augen. Das löste bei allen Emotionen aus. Wir auf der Bühne fingen an zu weinen, ebenso im Zuschauerraum. Es war unglaublich!

Die Rolle haben Sie ohne Tränen hingekriegt?

Brecht wollte auf der Bühne keine Tränen. Er wollte Fragen provozieren: Warum handelt die Courage so und nicht anders? Er wollte aktivieren!

Wollen wir mal weitergehen?

Pressesprecherin: Ich habe hier die Garderobe aufgeschlossen, wenn Sie mal hineinschauen wollen.

Ach, es ist so trostlos. Vielleicht kann ich Ihnen einen dieser Stühle zeigen, die für die Aufführung des „Galileo“ hergestellt wurden und uns dann als Garderobenstühle dienten. Die Weigel war ja eine sehr sparsame Hausfrau und verdonnerte die Stühle in unsere Garderoben. Sie waren ungepolstert. (schaut in die schmucklos-kalte Garderobe) Nein, hier ist keiner mehr. Aber wir finden einen. Die gibt es noch, überall.

Pressesprecherin: Die mit dem Leder.

Ja, und mit diesen handgeschmiedeten, ekelhaften Beinen – wie oft ich mir die Knöchel an diesen Beinen gestoßen habe! (steht vor der Bühne) Hier auf der Bühne ist das Besondere, dass sie leicht angeschrägt ist. Wenn ich den „Mutter Courage“-Wagen gezogen habe, war das nicht nur eine psychische, sondern auch ein physische Leistung. Denn wenn wir von hinten kamen, schob der Wagen, so schwer, wie er war. Meine „Söhne“ mussten immer spielen, dass sie ihn ziehen – in Wirklichkeit schob er sich ihnen in ihre Kniekehlen. Am Ende des Stückes, nachdem ich meine drei Kinder an diesen Krieg verloren habe, musste ich den Wagen ganz allein wieder die Schräge nach oben ziehen. Das kostete letzte Kräfte: Hinter der Bühne stand immer ein Bühnenarbeiter, der mir zuwinkte: „Na komm, na komm.“ Er nahm mir dann den Wagen ab. Das ist eine ganz gemeine Schräge!

Machen Sie eigentlich gerade Ihr Fotografiergesicht, von dem Sie in Ihrem Buch erzählen?

Nein. Aber das Gemeine ist ja, dass alle Fotografen nur darauf lauern, wenn man „Ähhh“ macht und den Mund weit aufreißt – nie wenn man schön ist.

Das ist doch bei Ihnen kein Problem.

Doch, doch. Oh, was ich mich da schon geärgert habe! Gerade beim Singen, wenn man singt „Und das Schiiiiiff …“ Da höre ich dann schon immer „Klick“. Aha, auf den Moment hat der Fotograf gewartet.

Pressesprecherin: Wir können nicht ganz auf die Bühne, weil da gearbeitet wird.

Hier sehen Sie die Drehscheibe. Beim Bühnenbild für die „Courage“ hatte man die Idee, dass man den Planwagen auf die Drehscheibe setzte. Ich lief auf der Stelle, aber man hatte den Eindruck, als ob ich wandere.

Vielleicht gehen wir mal in den Zuschauerraum. Sie kennen hier sicher jeden Zentimeter.

Ja, das tue ich. Hier geht’s auch zur Toilette, wo jetzt die Zuschauer hingehen.

Doch noch ein historischer Ort!

Ja. (lacht, öffnet die Tür) Ach, so etwas Vornehmes hatten wir gar nicht. Man musste immer rufen: „Halt, besetzt!“ Man konnte nicht abschließen. Hier am Bühnenrand sehen Sie übrigens die Gardine, die Brecht eingeführt hat. Nicht der schwere Samtvorhang, der Zuschauerraum und Bühne trennt, sondern eine leichte, beige Gardine. Durch den Vorhang sollten die Vorgänge auf der Bühne beim Umbau hörbar bleiben. Brecht wollte ja, dass die Leute aus dieser Verzauberung durch das Theater herausgeraten.

Der Verfremdungseffekt?

Es war sicher ein Teil des Verfremdungseffekts. Dieser leichte Stoffvorhang wurde ratsch-ratsch zu- und aufgezogen. Das wurde ganz einfach gehandhabt.

Wir haben die Stühle von „Galileo“ immer noch nicht gefunden – warum hat man das offenbar alles weggeschmissen?

Vielleicht weil man ganz von vorn anfangen wollte. Diese Brecht-Tradition ist natürlich auch eine Belastung für jeden, der hier neu beginnen will. Das war hier eine große Zeit des Theater, die international gewirkt hat. Das kann ich schon verstehen, dass man mit dieser Belastung nicht gern weitermachen wollte.

Aber deshalb schmeißt man doch nicht die ganzen Sachen von Helene Weigel raus.

Tja. Ich finde es auch außerordentlich bedauerlich.

War das eigentlich eher eine unangenehme Sache, zur Intendantin gehen zu müssen?

Es kam darauf an, was man auf dem Kerbholz hatte oder was man wollte. Wenn man wie ich zweimal Urlaub haben wollte, um an einem anderen Theater etwas zu spielen, dann war das schon ein recht unangenehmer Kampf. Ich machte ja dadurch Schwierigkeiten im Arbeitsablauf. (kommt zu einem Zimmer mit vielen Weigel-Fotos an den Wänden) Dieses kleine Büro war ihre Residenz. (man sieht eine ganze Wand voller Gipsmasken)

Mein Gott, wer sind diese Leute?

Das sind Masken von Schauspielern des Ensembles. Die wurden von der Maskenbildnerei für Arbeitszwecke abgenommen. Wenn bei einer Aufführung Masken getragen werden sollten, hatten sie gleich die Modelle für die Schauspieler.

Der Raum hat schon Atmosphäre.

Ja. Hier saß die Weigel, und durch dieses Fenster konnte sie den ganzen Betrieb im Theater überblicken. Manchmal machte sie einfach das Fenster auf und rief runter: „Du, komm herauf, ich muss was mit dir besprechen.“

Wie auf einem Feldherrnhügel.

Ja, ein bisschen. Dann kam man hoch, saß ihr gegenüber, an ihrem berühmten schwarzen Holztisch. Hier stand eine alte Kirchenbank, die aus irgendeiner abgerissenen Kirche mal hergeschafft worden war. Dort saßen dann die „Delinquenten“, wenn Frau Weigel irgendetwas kritisierte oder sich über irgendetwas beschwerte. Das konnte auch sehr unangenehme Momente geben. Aber meistens war sie im Recht, wenn sie etwas beanstandete.

Sie saßen auch ab und zu auf der Kirchenbank.

Ja. Schon vorher fragte man sich: Ist sie gut drauf? Kann ich jetzt mit meiner Bitte kommen? Man musste vorbei an zwei Sekretärinnen, die eigentlich das Herz des Theaters ausmachten – sie wussten Bescheid über den Spielbetrieb und so weiter. Dann kam man, um nach einem spielfreien Abend zu fragen: „Bin ich da frei?“ Wenn die Weigel von ihrem Büro aus meine Stimme hörte, sagte sie: „Du, komm mal rein.“

Die Pressesprecherin hat tatsächlich noch einen alten Garderobenstuhl gefunden und schleppt ihn herein.

Das ist so einer. Setzen Sie sich mal drauf! Ist der nicht eine Plackerei?! Und so kalt von unten!

Stimmt. Aber der Raum hat etwas.

Ja. Hier war es auch, als ich mal die Weigel fragte, ob ich im Metropol-Theater die Dolly im Musical spielen dürfe. Ich sagte: „Mein ganzes Lebensglück hängt an dieser Aufgabe!“ Da sprang sie auf, lief im Büro hin und her und sagte: „Wer hat denn nach meinem Lebensglück gefragt?! Zwölf Jahre habe ich nicht Theater spielen können. Ich habe keine Shen Te, keine Grusche, keine der großen Brecht-Rollen gespielt!“ Uff! Da habe ich mich gefragt: Wie konntest du so etwas sagen: mein ganzes Lebensglück!

Liegt das Lebensglück eines Schauspielers wirklich darin, dass er bestimmte Rollen spielt?

In dem Moment: ja. Wenn man die Rolle, die man spielen will, bekommt – das ist kaum vorstellbar. Das ist schon ein Glücksmoment. Wenn der dann vorbei ist, kommt die Arbeit, die bewältigt werden muss. Das ist wie ein großer Berg, auf den man da hinaufsteigt. Man fängt immer wieder bei Null an, immer wieder! Trotz aller Erfahrung.

Dieser Satz von Helene Weigel hört sich nach einer verbitterten Frau an.

Ja. Aber sie hat dieses Thema nie wieder erwähnt. Nicht um Mitleid zu erheischen oder Ähnliches. Das war das Erschreckende, dass sie in diesem Augenblick, ein einziges Mal, so in sich hineinschauen ließ.

Es war auch ein Vertrauensbeweis Ihnen gegenüber.

Ja, es war etwas, was ihr Frausein sehr betroffen hatte.

Brecht hat Helene Weigel nicht besonders gut behandelt.

Ich glaube, er hat sie gut behandelt, als Künstlerin hoch geschätzt und respektiert. Er hat allerdings andere Frauen auch gut behandelt. Brecht war für mehrere Damen offen. Als ich mal Schwierigkeiten mit meinem Partner hatte, hat mir die Weigel auch Rat gegeben. Man konnte mit ihr über alles sprechen.

Lassen Sie uns auf dieses Ledersofa setzen.

Ja, das ist natürlich viel schöner als diese Garderobenstühle. Die kamen übrigens von Eddi Fischer, das war ein Unikum. Der baute alles, was wir brauchten. Er hat eine Kuh hergestellt, die mit den Augen blinkern und die Zunge rausstrecken konnte. Wir brauchten sie für ein Stück auf der Bühne. Eddi Fischer hat auch mal privat was für Elisabeth Hauptmann angefertigt, eine Mitarbeiterin und zeitweilige Geliebte von Brecht. Für sie hat er, als sie sehr krank war, einen speziellen Nachttisch für das Krankenhaus gebaut. Wir waren wie eine große Familie hier. Ein bisschen.

Warum schreiben Sie eigentlich so wenig über Brecht, Sie haben ihn doch noch erlebt?

Ja, aber ich gehörte damals nicht in sein Ensemble.

Aber Sie hätten ja mal zu ihm gehen können, um sich vorzustellen. Sie sangen ja schon seine Lieder.

Ach, das wäre sehr schwierig gewesen. Er war ja immer von vielen Frauen umgeben. Ich war damals auch sicher nicht sein Typ. Ich war ihm vielleicht zu hübsch.

Das wäre etwas Neues, dass Schönheit schadet.

Tja, er hatte ja ein besonderes Faible für einen eher proletarischen, herben Frauentyp. Da passte ich mit meiner Eleganz nicht rein.

Sie klagen in Ihrem Buch, dass Sie bei jedem Interview eine Stellungnahme zu Mauerbau oder Mauerfall abgeben müssten – aber das ist doch nicht verwunderlich: Sie schreiben selbst, Sie seien eine der führenden künstlerischen Repräsentanten der DDR gewesen. Da muss man doch auf diese Themen kommen.

Na gut, aber es ist doch sehr viel komplizierter, als wenn man in Interviews gefragt wird, wie viele Ehen man gehabt hat oder wie es dem Sohn geht, der in Amerika studiert. Da kann man sofort was antworten. Aber allein die Tatsache, in der DDR geblieben zu sein, ist für viele in Westdeutschland eine unverständliche Entscheidung, zumal ich ja das Privileg hatte, zu Gastspielen ins westliche Ausland reisen zu dürfen. Da fragen die Leute: Warum sind Sie denn nicht weggeblieben?

Ja, warum?

Unter anderem, weil ich in einem hervorragenden Theater gespielt habe. Hier hatte ich meine künstlerische Heimat. Weil ich wirklich von der Bühne herunter versucht habe, etwas zu vermitteln an Menschlichkeit, an Verständnis. Wir lebten ja auch in einer Zeit, da der Krieg noch gar nicht lange her war. Das saß in den Fünfzigerjahren noch bei allen Leute in den Köpfen. Diese Themen wollte ich interpretieren. Ich habe vor der UNO in New York das Friedenslied gesungen. Das waren Erlebnisse! Hier brauchte ich keine Konkurrenz, keine Klatschgeschichten zu fürchten. Es gab keine Skandale, die die Öffentlichkeit interessierten. Und mit etlichen politischen Zielen, die man in der DDR hatte, etwa was den Frieden betraf, ging ich ja auch voll mit. Mein Bruder war im Krieg geblieben. Ich komme aus einem linken Elternhaus. Das behält man fürs Leben.

Manches in Ihren Memoiren fand ich fast zynisch: Da schreiben Sie: „Es kam zu massiver Unzufriedenheit, zum Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953, in den sich Kräfte aus Berlin-West heftig einmischten. Die sowjetischen Panzer klärten die Lage eindeutig …“

Mit dem Wort „eindeutig“ meinte ich: „unmissverständlich“. Über den Aufstand in der Tschechoslowakei schreibe ich: Gegen Panzer gibt es keine Argumente mehr. Ich meine das nicht positiv. Ich habe gemeint: Gegen Gewalt kann man nichts machen.

Brecht hat gegen die Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 mit dem Gedicht protestiert: Dann solle sich die Führung …

… eben ein anderes Volk wählen. Das hat damals für großes Aufsehen in der Öffentlichkeit gesorgt. Es war natürlich provokativ gemeint.

Der zweite Satz, der mir aufgestoßen ist: „Aber wenn dieser Staat“ – also die DDR – „weiter leben wollte, wie sollte das bei dieser Ausblutung geschehen?“

Ja.

Das war Ihr Kommentar zur Mauer. Das ist deshalb etwas hart, weil de facto für Sie ja die Mauer nicht stand: Sie konnten reisen, wie Sie wollten.

Gut. Aber das muss man alles im Zusammenhang lesen: Wenn damals diese Ausblutung weitergegangen wäre, hätte die Gefahr eines Dritten Weltkriegs bestanden. Warum haben denn die Bürgerrechtler erst 1989 die Chance gehabt, etwas zu verändern? Wegen Gorbatschows neuer Linie. Zuvor hätten die Russen nie zugestanden, dass die DDR kaputt geht. Aber ich habe doch auch geschrieben, dass die Mauer schrecklich war.

Das haben Sie geschrieben, aber man kann das ja auch so interpretieren, dass sie zwar schrecklich, aber notwendig war – so wie ein Zahnarztbesuch schrecklich, aber eben manchmal nötig ist.

Es war nötig, um damals den Krieg zu verhindern! Die Atomwaffen standen auf beiden Seiten. Ein Druck auf den Knopf, und sie wären abgefeuert worden. Die Russen brauchten doch die DDR als Bollwerk gegen den Westen. Ich kann bis heute nicht verstehen, dass die vier großen Mächte, die Hitler besiegt haben: die USA, Frankreich, Großbritannien und die UdSSR, anstatt sich weiter zu verbrüdern, plötzlich gegeneinander standen. Am liebsten hätten doch die Amerikaner weitergemacht und hätten die Sowjetunion damals schon beseitigt, um die Supermacht Amerika zu etablieren, so wie es jetzt ist.

320 Seiten ist Ihr Buch dick, und kein einziges Mal kommt das Wort Staatssicherheit oder Stasi vor.

Ich schrieb meine Erinnerungen, darin hat die Stasi für mich persönlich keine Rolle gespielt. Heute wird vieles nur noch darauf reduziert. Bei dem derzeitigen Gedächtnisschwund wird die DDR in erster Linie reduziert auf den Trabant und auf die Stasi. Und so war es nun ganz gewiss nicht. Ich habe mit Wolfgang Harich zusammengelebt, der ja aus anderen Gründen – weil er Walter Ulbricht stürzen wollte – acht Jahre im Zuchthaus saß und als Dissident bezeichnet wurde, obwohl er bis zu seinem Lebensende ein Sozialist geblieben war. Wenn ich zu Gastspielen ins Ausland gefahren bin, habe ich nie irgendwelche Berichte schreiben müssen. Ich bin auch immer nur allein mit meinen Musikern gefahren. Das einzige, was die Künstleragentur eine Zeit lang wissen wollte, war, wie viele Zuschauer da waren. Damit sie die finanzielle Seite bewerten konnten.

Als ich Anfang der Achtzigerjahre mit meiner Schulklasse erstmals Westberlin besucht habe, sind wir auch nach Ostberlin gefahren, wo ich mir vom Zwangsumtauschgeld eine Platte von Ihnen mit Brecht-Liedern gekauft habe, die ich nach einer Weile alle fast auswendig konnte. Als ich nun vor kurzem Ihren Brecht- und Weill-Abend gehört habe, war ich einerseits erfreut, dass Sie sich genauso anhörten wie auf den Platten. Auf der anderen Seite dachte ich mir: Nach zwanzig Jahren immer noch derselbe Stil?

Sie haben mich nicht mit Eisler-Liedern gehört, sondern mit Songs von Weill. Bei Weill ist nun einmal dominierend: die schöne Musik, die wunderbaren Melodien – und dem muss man, ob vor zwanzig Jahren oder heute, entsprechen.

Aber Sie interpretieren das alles sehr theatralisch. Das erinnert mich ein wenig an das hohe Pathos der Fünfzigerjahre.

Es sind ja auch dramatische Geschichten, die ich erzähle. Etwa beim Surabaya-Song, wenn sie von ihrem Geliebten verlassen wird. Das ist etwas, was auch heute noch überall passiert. Es ist eine sehr schmerzliche Sache. Ich bleibe, auch wenn ich singe, immer Schauspielerin. Ich bin das, was Brecht als singende Schauspielerin bezeichnet hat.

Der Surabaya-Song sei, haben Sie mal gesagt, das Höchste für Sie. Warum ist das so?

Erstens empfindet das Publikum das auch so. Und zweitens weil hier eine Geschichte erzählt wird, die menschlich so nachvollziehbar ist im Erleben. Da ist auch keine gesellschaftliche Dimension mehr dabei – außer vielleicht noch eine kleine soziale Kritik, denn ganz ohne die ging es bei Brecht ja eigentlich nie. Aber in erster Linie ist es eine große menschliche Tragödie, die zwischen zwei Menschen passiert. Er verlässt sie.

Ist da auch viel eigene Geschichte dabei?

Nee.

Sie haben immer verlassen.

(lacht) Immer würde ich nicht sagen.

Wurden Sie nie verlassen?

Zu meinem Beruf gehört Menschenkenntnis. Das ist eine Voraussetzung, die man mitbringen muss. Und das ist mir, glaube ich, auch bei Männern zugute gekommen. Deshalb konnte es im Zusammenleben ziemlich souverän zugehen.

Sie und Ihre Partner ließen sich, wenn man Ihr Buch liest, gegenseitig ziemlich viele Freiheiten.

Nein. Sonst wäre meine erste Ehe mit Georg Honigmann ja nicht gescheitert. Sie ging schief, weil ich schwach geworden bin. Aber dass das auch in jedem Interview immer derart heraus geholt wird! Mein Gott, das passiert überall und jeden Tag.

Gibt es eigentlich Tage, an denen Sie nicht an den Krieg denken? In Ihrem Buch zieht sich das durch. Immer wieder Kriegserinnerungen.

Ja, das wird man sein Lebtag nicht los. Außerdem sind wir ja wieder einmal in einer neuen Situation, wo wir den Krieg vor der Tür haben. Aber sogar in Amerika formiert sich jetzt eine Antikriegsbewegung. Auch in der Bundesrepublik gibt es riesige Demonstrationen. Heute müsste ich das Friedenslied wieder singen.

Sie sind 78 Jahre, da darf man das vielleicht mal fragen …

… ja, das ist immer so uncharmant. Zu Zeiten von Marlene Dietrich hätte es das nie gegeben.

Aber Sie schreiben es selbst!

Gut, aber – wissen Sie, was ich ungerecht finde: Bei Kritikern steht nie hinter deren Namen in Klammern das Alter. Wenn ein Kritiker mit 62 Jahren die May lobt, dann hat er die Weigel vor mir gesehen, dann hat er die Therese Giehse erlebt. Dann ist das für mich ein großes Lob. Wenn ein 25-Jähriger so etwas schreibt, denke ich: „Nebbich, der hat noch nichts Vergleichbares gesehen.“ Aber natürlich freut mich ein Lob immer, ob Jung oder Alt.

Was haben Sie sich noch vorgenommen?

(zögert) Erst einmal: Ich lese viel. Mein Vater war Schriftsteller, mein Ehemann war Journalist, mein Partner Harich hat geschrieben. Literatur ist für mich genauso wichtig wie Musik. Ich gehe sehr gern in Konzerte. Ich genieße die Natur, setze mich auf mein Fahrrad, muss mir jetzt ein neues Auto kaufen, weil meines schon sechzehn Jahre alt ist. Ich brauche wieder eine elegante Limousine. Aber sie muss eine Kofferklappe haben, damit ich mein Rad hineinschmeißen kann. Ich fahre durchs Zentrum ins Grüne und mache dann eine wunderschöne Radtour. Ich versuche eben, noch ein bisschen mehr Leben mitzubekommen, das ich durch viel Arbeit zwischenzeitlich nicht hatte – aber auch nicht entbehrt habe: Denn das Theater ist nun mal mein Leben.

Was ist in Ihrem Beruf das, was den Augenblick auf der Bühne überdauert?

Ich hoffe doch, es sind meine Schallplatten, die zum Teil jetzt schon über dreißig Jahre überdauert haben – und vielleicht mein Buch. Aber im Ganzen bin ich ziemlich nüchtern. Alle meine Gefühle werden auf der Bühne ausgedrückt.

Nach so vielen Jahrzehnten am Berliner Ensemble sind Sie bei vielen Jungen vor allem im Westen nur noch als „Muddi“ in einer beliebten Fernsehserie bekannt. Ist das nicht bitter?

Das löst schon eine gewisse Bitterkeit in mir aus. Auf der anderen Seite: Ich bin ja auch Komödiantin, das heißt vielseitig. Ich kann sehr komisch sein, mache das auch gerne. Aber wenn es nur das wäre, was von mir bleibt, wäre das doch ein bisschen bedauerlich. Aber ich habe die Relationen zwischen dem Beruf und dem sonstigen Leben drumherum nicht verloren. Ich weiß, dass der Beruf nicht alles ist. Nicht mein ganzes Lebensglück hängt von einer Rolle ab, wie ich damals gesagt habe.

Aber Sie sagten doch, dass Ihr Beruf Ihr Leben ist.

Ja, aber ich würde mir nicht das Leben nehmen, wenn es damit vorbei wäre. Dann müsste ich mir eben was anderes suchen. Nach der Kündigung habe ich mich gefragt: „Was machste denn jetzt? Ganz ohne Arbeit kannst du nicht sein. Es muss irgendetwas Soziales sein. Vielleicht gehst du in Krankenhäuser und liest da den genesenden Patienten was vor.“ Ich war schon drauf und dran, mir so etwas auszudenken.

Und jetzt sind Sie wieder zurück im Berliner Ensemble.

Aber ich stehe als Gast auf dieser Bühne. Ich bin heimgekehrt in ein wunderbares Haus, aber nicht heimgekehrt in ein Ensemble.

Wir sind auch nur Gäste auf Erden.

Ja, gut, aber so hätte ich mein Buch nicht abschließen können. (lacht)

PHILIPP GESSLER, geboren 1967, ist Autor und Redakteur im Berlin-Ressort