Drogenkrieg in Mexiko: Lehrer zwischen den Fronten
In Ciudad Juárez rekrutieren Drogenkartelle Jugendliche, um gegen den Staat Krieg zu führen. Die Lehrer einer weiterführenden Schule wehren sich dagegen.
CIUDAD JUÁREZ taz | "Es gibt hier kaum eine Familie, die keine Angst hat, denn unsere Schule liegt im Territorium von mehreren Banden und entsprechend riskant ist es in Nuevo Juárez", erklärt Rosa Inés. Die 15-jährige Schülerin der weiterführenden Schule Secundaria 8368 hat vor einigen Wochen einen Mann vor dem Eingang ihrer Schule in Ciudad Juárez sterben sehen, am helllichten Tag.
Der pausbäckige Teenager mit den schulterlangen schwarzen Haaren ist alles andere als gut auf die mexikanische Armee und deren Straßensperren und Durchsuchungen zu sprechen. "Eigentlich sollen die Soldaten für Sicherheit sorgen, doch wenn es drauf ankommt, sind sie nie da", ärgert sich Rosa Inés und schüttelt mit dem Kopf.
"Darüber wird kaum berichtet, dabei weiß das jeder." Soziale Kommunikation will sie studieren und irgendwann selbst als Reporterin in einer Redaktion arbeiten, um es besser zu machen. "Das war schon immer ihr Traum", erklärt ihre Mutter María López, die den Berufswunsch ihre Tochter nach Kräften unterstützt. "Sie hat sich schon immer für andere eingesetzt, und die Lehrer an der Schule unterstützten sie dabei - sie zeigen den Jugendlichen Perspektiven auf".
In der Stadt, die mitten an die Wüste liegt und nur durch das trockene Flussbett des Rio Grande von El Paso im benachbarten Texas getrennt, ist das kein einfaches Unterfangen. Denn in Ciudad Juárez tobt ein Krieg, der von Tag zu Tag brutaler geführt wird. In der Stadt geschahen allein im vergangenen Jahr weit über 2.000 Morde.
"Als 2007 die ersten Soldaten von Präsident Felipe Calderón geschickt wurden, hatten wir es mit ein oder zwei Toten am Tag zu tun. Heute sind es oft mehr als ein Dutzend", klagt Jorge Alberto Vázquez Cormono. Er ist der stellvertretende Rektor der Secundaria 8368. Die vielen Toten sind ein wesentlicher Grund, weshalb die beiden soliden Eingangstore zur Schule in der Unterrichtszeit fest verschlossen sind. "Das Risiko ist viel zu hoch, denn wir haben schon oft im Unterricht Schüsse von draußen gehört. Dieses Stadtviertel ist alles anders als ungefährlich", berichtet der 43-jährige Lehrer, der wie viele der Bewohner nach Ciudad Juárez immigriert ist.
In Juárez Nuevo, Neues Juárez - so heißt das Stadtviertel vielsagend, stammen die allermeisten aus andere Regionen Mexikos - aus Monterrey oder dem Bundesstaat Veracruz, wo noch vor wenigen Jahren systematisch Arbeitskräfte angeworben wurden, und selbst aus dem im Süden des Landes liegenden Oaxaca sind Familien gekommen, weil es in den Fabriken im unwirtlichen Norden Arbeit gab. Die Familie von Rosa Inés stammt hingegen aus Ciudad Juárez und lebt seit rund zehn Jahren in dem von einfachen ein- und zweistöckigen Wohnhäusern aus Beton und Ziegelstein dominierten Viertel.
Im Mittelpunkt des Viertels liegt die Secundaria 8368, eine mit Sportplatz, Bibliothek und Aula gut ausgestattete und von einer langen Mauer umgebene Schule, wo in Doppelschichten unterrichtet wird. Um ein Uhr mittags beginnt der Unterricht für Rosa Inés, Mirna, Israel, Dorian und all die anderen aus der zweiten Klasse der Secundaria.
14 oder 15 Jahre sind die Schüler alt und etwas mehr als zwanzig Jugendliche zählt die Klasse - darunter mehrere Jungen und Mädchen mit Behinderungen wie Israel, der im Rollstuhl sitzt. Er will genauso wie sein Kumpel Dorian Anwalt werden und hat klare Vorstellungen, weshalb: "Ich will denen helfen, die zu Unrecht im Knast sitzen und die ins Gefängnis bringen, die es verdient haben. Damit man sich hier wieder frei bewegen kann", sagt der 15-Jährige und rückt seine rechteckige Metallbrille zurecht.
Gerechtigkeit und Sicherheit sind Mangelware in Ciudad Juárez und soziales Engagement ist auch nicht gerade Usus. Grund genug für Mirna, Lehrerin für Behinderte werden zu wollen, während ihre Freundin Ana Laura sich für Medizin entschieden hat. Die meisten der Schüler, wenn auch nicht alle, sehen ihre Perspektive in Juárez und beschäftigen sich nicht mit der Abwanderung gen Norden in die Vereinigten Staaten, wo es so viel sicherer ist und wo die Perspektiven so viel besser sind. El Paso heißt der kleine Bruder von Ciudad Juárez, und wer es sich leisten kann, wechselt nicht nur am Wochenende auf die andere Seite der Grenze und passiert die internationale Brücke Paso Del Norte, um in den USA sein Glück zu versuchen.
Bürgermeister José Reyes Freís hält es angeblich so und viele Unternehmer aus Juárez haben sich in El Paso ein Domizil zugelegt. Dort registriert die Polizei im ganzen Jahr so viel Morde wie in Ciudad Juárez oftmals an einem Tag. Kaum ein Stadtteil der weitläufigen, letztlich aus drei verschiedenen Regionen bestehenden Zuwanderungsstadt gilt als sicher, und auch die von hohen Zäunen umgebenen Wohnsiedlungen der Mittel- und Oberschicht, die gated comunities, bieten nur begrenzte Sicherheit.
Angst haben auch viele der Eltern in Juárez Nuevo um ihre Kinder. "Trotz all der Soldaten können wir die Kinder doch schon lange nicht mehr rausschicken", erklärt María Santos Alvárez. Sie holt heute ihren Neffen in der Secundaria ab, der gerade sein erstes Jahr in der weiterführenden Schule begonnen hat. Zwölf ist Alejandro Ivarro Reyes. Der aufgeweckt wirkende Junge mit den wuscheligen Haaren kommt aus schwierigen Familienverhältnissen. Zum Vater gibt es schon lange keinen Kontakt mehr und die Mutter sitzt wegen eines Drogendelikts im Frauengefängnis der Stadt.
Alles hängt an Oma María. Die 53-Jährige versucht, sich und die drei Kinder ihrer Tochter über Wasser zu halten. Mit dem Verkauf gebrauchter Kleidung, mit Putzarbeiten und ähnlichen Jobs verdient sie das Notwendigste, und manchmal spendet die Schule das ein oder andere zum Essen aus der Kantine hinzu.
"Für einen Job in der Maquila bin ich zu alt und dort gibt es derzeit eh keine Arbeit", klagt María Santos Alvárez. Zum Besuch in der Schule hat sie etwas Lidstrich und Rouge aufgelegt. Einen guten Eindruck bei der Psychologin und der Sozialarbeiterin will sie machen, denn schließlich ruhen ihre Hoffnungen auf Alejandro. "Ich will Mechaniker werden, denn Autos gibt es in Juárez ohne Ende und immer etwas zu reparieren", erklärt der Bursche mit den sorgsam gegelten Haaren.
Recht hat er, lobt die Psychologin Marisela Ortiz. In der weitläufigen, von Wüste umgebenen Stadt gehe ohne fahrbaren Untersatz kaum etwas. Ortiz ist genauso wie die Lehrer froh, wenn sich die Schüler früh für einen Beruf entscheiden. Daher beginnt man in der Secundaria 8368 früh mit Berufsberatung.
"Dafür haben wir uns alle weitergebildet, denn das schüttelt kein Lehrer mal so eben aus dem Ärmel", erklärt Rektor Gimberto Ontiveros. Der schlaksige Mann mit dem graumelierten hohen Haaransatz und dem gepflegtem Dreitagebart hat zudem Konfliktmoderation auf den Stundenplan gesetzt und den Kontakt zu den Eltern intensiviert.
"Wir helfen, wo wir können, denn wenn die Eltern, oftmals sind es alleinerziehende Mütter, in der Fabrik arbeiten, sind die Kinder auf sich selbst gestellt." Zusätzliche Angebote, vom Volkstanz über den Geigenunterricht bis zum Theater- und Hip-Hop-Kurs, hat die Schule im Angebot, und auch am Samstag sind die Lehrer im Einsatz. "Dann finden Kurse statt und öfters kommen Ehemalige vorbei und geben ihre Erfahrungen weiter", ergänzt Vizedirektor Vásquez.
Für die Pädagogen sind diese Besuche Motivation pur, denn jeder Schüler, der die Kurve kriegt, ist für Vásquez ein Grund, der Stadt nicht den Rücken zu kehren. "Aus dieser Generation müssen wir etwas machen, ihnen Werte vermitteln, damit sie es besser machen. Eine andere Chance gibt es nicht." Dabei kommt den Lehrern der Secundaria 8368 zugute, dass sich unter den Schülern längst rumgesprochen hat, wohin die Resie geht, wenn man sich auf das schnelle Geld der Banden und Kartelle einlässt. "Die meisten der Toten sind unter 25 Jahre, und ich träume von einer eigenen Familie", erklärt Dorian.
Der angehende Anwalt reimt Rap-Verse über die Realität in einem Viertel zwischen allen Stühlen und will sauber bleiben. Dabei spielt die Unterstützung der Schulpsychologin oft eine große Rolle, denn die hilft, wenn die Kids nicht mehr weiter wissen. "Wichtig ist für unsere Schule aber auch, die überdurchschnittliche Präsenz behinderter Mitschüler. Da wird Hilfe zur Selbstverständlichkeit." Soziale Kompetenz lernen die Schüler so im Alltag an der Schule, erklärt die rundliche Psychologin mit dem pechschwarzen Lockenkopf eine Besonderheit der Schule. 20 bis 40 Prozent der Kinder haben Handikaps, je nach Klasse.
Das lässt sich nicht ohne Weiteres auf andere Schulen übertragen, argumentiert der Soziologe Leobardo Alvarado von der autonomen Universität von Ciudad Juárez, aber er fordert von der Regierung mehr soziales Engagement. "Wir brauchen mehr Psychologen und Sozialarbeiter an den Schulen, um einer Generation zwischen den Fronten Halt zu geben", argumentiert der 37-Jährige. Dass solche Konzepte Früchte tragen, zeigt das Beispiel von Rosa Inés. Die 15-Jährige will bald ein Schnupperpraktikum bei El Diario machen, der größten Zeitung der Stadt.
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