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Doris AkrapGeraschelFeiert den europäischen Frühling!

Foto: privat

Es ist die verpasste Chance Europas im Jahr 2025. Mehrfach hätte es in Brüssel, Berlin oder den Börsenvierteln des Kontinents Gründe gegeben, nicht nur verhalten optimistisch, sondern sogar euphorisch zu sein. Europa hätte Europa als Kontinent im Aufbruch, im Kampf gegen Korruption, Vetternwirtschaft, Autoritarismus und Diktatur feiern können. Und als Kontinent, in dem die jungen Leute und die Zivilgesellschaft sich dagegen wehren, dass es bei ihnen zu Hause so zugeht wie bei Putins unterm Sofa, wo alles außer Sicht- und Hörweite gebracht wird, was die reibungslose Durchsetzung des Diktatorenwillens stört.

Seit über einem Jahr protestieren Hunderttausende in Georgien und Serbien gegen ihre in Teilen prorussisch agierenden Regierungen. Auch innerhalb der EU stürzte nach riesigen Protesten eine korrupte Regierung (Bulgarien), während zur selben Zeit über 50.000 Ungarn und Ungarinnen in Budapest demonstrierten und den prorussischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán aufforderten, endlich aufzugeben. In Budapest kam es in diesem Jahr immer wieder zu diesen Demos, Auslöser sind die Missbrauchsvorwürfe gegen Regierungsmitglieder und staatliche Jugendeinrichtungen.

Mehr proeuropäischer und gegen Vetternwirtschaft und Korruption gerichteter Protest war nach 1989 selten auf diesem Kontinent. Es ließe sich sogar von so was wie einem europäischen Frühling sprechen.

Stattdessen schlechteste Laune und Apokalypse. Seit der Bundestagswahl gibt es hierzulande kein öffentliches politisches Gespräch, das ohne die bedrohlich gemeinte Aussage auskommt, dass die AfD bald das Ruder übernimmt. Seit der Inauguration von Trump gibt es hierzulande kein öffentliches politisches Gespräch, das ohne die als letzte Warnung zu verstehende Aussage auskommt, Europa müsse endlich auf eigenen Füßen zu stehen kommen – als wäre der Kontinent ein schwer erziehbarer und pickliger Teenager, der sein Leben bisher mit Computerspielen im Hotel Mama verbracht hat und jetzt erstmals Miete, Chips und Baggyjeans selber verdienen muss.

Der Bundeskanzler hat zwar recht, dass die Ukraine für den Frieden und die Freiheit in ganz Europa kämpft. Aber es ist falsch zu glauben, dass Europas Frieden und Freiheit ausschließlich vom Frontverlauf in der Ukraine abhängt.

Wenn Georgien, wenn Serbien, wenn Ungarn oder die Slowakei weiter mit Putin politische, militärische und andere Geschäfte machen, dann ist das unter Umständen bedrohlicher für Frieden und Freiheit Europas als ein Wahlsieg der AfD in Sachsen-Anhalt. Europa behandelt seinen Osten immer noch so, als wäre er Müll, den man außer Sicht- und Hörweite unters Sofa kehrt.

Hier ­erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche: „Grauzone“ von Erica Zingher.

Es gibt eine Institution in diesem Land, die macht genau das Gegenteil: die Leipziger Buchmesse. Die wird im Jahr 2026 unter dem Titel „Unter Strom und zwischen Welten“ kein Gastland, sondern eine ganze Region zum Schwerpunkt machen: die Donau. Sie durchfließt zehn europäische Länder und weist damit die Richtung, in der sich auch Europa mehr umgucken sollte: Deutschland, Österreich, die Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Bulgarien, Rumänien, die Republik Moldau und die Ukraine.

Im Fokus der Messe steht die Literatur, beispielsweise die der 2023 verstorbenen Schriftstellerin und Essaystin Dubravka Ugrešić. Die deutsche Übersetzung ihres Essaybands „Europa in Sepia“ ist in diesem Jahr im eta Verlag erschienen: „Wir alle kratzen uns nun mal da, wo es am meisten juckt“, schreibt sie dort, und dass wir unfähig geworden sind, die Schönheit der feinen Unterschiede in Mitteleuropa zu genießen.

Mehr Protest nach 1989 war selten

Ich wünsche mir für 2026 schlicht mehr Perpektivwechsel, wenn es um Europa geht. Das schafft zwar keinen Frieden, aber bessere Laune.

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