Doris Akrap Geraschel: Rotzlöffeldichte diesmal auf Rekordniveau
Das Wesen des Wahlkampfs besteht darin, irgendwas zu versprechen („Nicht mit mir“ oder „Nur mit mir“) und die Konkurrenten als Hanswurste zu dissen. Immer mit im Gepäck: das Schuldshitbingo: Alles, was schiefläuft, ganz weit von sich und auf irgendjemand schieben, der einem grad im Weg steht – ganz so, wie es die Rotzlöffel im Sandkasten tun („Er war’s!“, „Sie war’s!“, „Er hat angefangen!“, „Sie ist schuld!“).
In der heißen Phase der Wahlkampfwochen ist die Rotzlöffeldichte immer sehr hoch. Dieses Mal aber hat sie Rekordniveau erreicht. Was vom Schuldschleuderwahlkampf 2025 hängen bleibt:
Die Migration: schuld (an allem!!!!!!!!!!!!!!!).
Die Ampel: schuld (an allem!!!!!!!!!).
Die FDP: schuld (am Ampelaus).
Männer: schuld (am Ampelaus)
Rot-Grün: versifft und schuld (am Aufstieg der AfD).
Die Ukraine: selbst schuld (an der eigenen Vernichtung).
Das Heizungsgesetz: schuld (an allem).
Der Reformstau: schuld (an der Millionendividende der Konzernmanager).
Corona: ein bisschen schuld (an allem).
Die Vorgängerregierung: schuld (immer und in jeder Hinsicht).
Helikoptereltern: mit schuld (am Aufstieg der AfD).
Robert Habeck: schuldig (in allen Punkten).
Die Jugend: schuld (am Aufstieg der Linken).
Die Boomer: schuld (am Aufstieg der Omas gegen Rechts).
Friedrich Merz: schuld (am Fall der Brandmauer).
Der Bundeskanzler: unschuldig (na gut, er hat ein Mal zugegeben, für die Regierung verantwortlich zu sein – Punkt).
Krieg: schuld (am Krieg).
Demokratie: schuld (am Krieg).
Der Klimaschutz: schuld (an der Wirtschaftsflaute).
Markus Söder: unschuldig (am Hochwasser).
Klimaaktivisten: schuld (am Bauschaum, den russische Wegwerfagenten in Auspuffs gestopft haben).
Der Westen: schuld (dass Putin die Ukraine ausradieren muss).
Die Schuldenbremse: schuld (an Christian Lindners Unschuld).
Die Linke: schuld (an der Verhinderung des Rechtsrucks, den nur die Grünen – nach Meinung der Grünen – verhindern können).
Hier erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche: „Grauzone“ von Erica Zingher
George Soros: schuld (wenn das BSW nicht in den Bundestag kommt).
Die Kirchen: schuld (an der Verunsicherung von CDUler).
Unentschiedene Wähler*innen: schuld (an den vielen Talkshows).
Talkshows: schuld (an der Politikverdrossenheit).
Die Medien: schuld (immer, also auch da, wo sie ihren Job richtig gut machen).
Trump: schuld (am mangelnden Plan Europas, Putin in die Schranken zu weisen).
Putin: schuld (dass Sahra Wagenknecht Sondierungsgespräche platzen ließ).
Ausländische Mächte, die sich in den deutschen Wahlkampf einmischen: inspirierend (für Matthias Döpfner, CEO von Springers Newsportal Politico, das Trump aus dem Korrespondentenbüro des Pentagons warf).
Sind Moderatoren wenig inspiriert, liefern sie statt einer Anschlussfrage gern die Ausweichphrase „Das lass ich jetzt mal so stehen“. Was wäre, wenn am Sonntag um 18 Uhr sämtliche Journalisten sagten: „Das lass ich jetzt mal so stehen.“?
Keiner würde Politiker*innen fragen, wer schuld ist an desaströsen Ergebnissen oder Erdrutschsiegen. Statt erneut das Blamegame zu spielen, könnten die Rotzlöffel die Zeit nutzen, ein paar Dinge klarzukriegen, zum Beispiel wie sich zwei bis drei Supermächte noch daran hindern lassen, die Ukraine und den Rest Europas vor den Bus zu werfen.
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