Doris Akrap Geraschel: Die Verwahrlosung Europas ist aufhaltbar
Wie immer in den Jahresrückblicken dominieren auch dieses Jahr die Grusel- und Schockergeschichten. Dabei ging das Jahr 2024 zumindest in Europa besser zu Ende als gedacht.
Steile These, ja! Und sie mag erst mal pietätlos klingen angesichts des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg, des Raketenhagels über der Ukraine, des Abschusses des aserbaidschanischen Flugzeugs und all der anderen tödlichen Weihnachtstragödien.
Doch in den letzten Wochen hätte jedem Europäer das Herz aufgehen können angesichts der Bilder von Hauptstadtplätzen des Kontinents, auf denen Hunderttausende für Europa demonstrierten, für die Vorstellung von Freiheit, Gleichberechtigung und der Möglichkeit, sich ein glückliches Leben zu erarbeiten. Und das, obwohl die Demonstrierenden sehr genau wissen, dass nicht alles in Europa Freiheit, Gleichberechtigung und die Möglichkeit, seines eigenen Glückes Schmied zu sein, ist.
Sie demonstrieren gegen eine von Russland finanzierte und inspirierte Politik in Georgien und in Rumänien. Sie demonstrieren gegen die tödliche Skrupellosigkeit der Regierung in Serbien.
Im Alltagsgespräch Westeuropas ist Osteuropa aber immer noch Grauzone. Taucht das Wort „Osteuropa“ auf, folgen auf dem Fuße die Wörter „Ungarn“, „Orbán“, „schlimm“. In den 1990er Jahren, zu Zeiten der blutigen Zerfallskriege Jugoslawiens, war es das Wort „Balkanisierung“, das im Westen fiel, wenn es darum ging, den schlechten Einfluss auf die Zukunft Europas zu beschreiben: Kleinstaaterei plus Racket-Regierungen, also die auf Gewalt beruhende Herrschaft von Gangs, Banden und Kriminellen in schlecht sitzenden Fake-Armani-Anzügen.
Es kam anders, der Westen zerlegt sich seit einigen Jahren ganz ohne osteuropäischen Einfluss. Auf dem hausgemachten rechten Humus Westeuropas gedeihen Populismus, Wahn und Gewalt, die von Kriminellen in gut sitzenden Armani-Anzügen orchestriert werden.
Nachdem den Serben im November buchstäblich ein Dach auf den Kopf gefallen war – das des neuen Bahnhofs in Novi Sad, das 15 Menschen tötete –, reichte es selbst nationalistischen Idolen, die ansonsten der Regimekritik unverdächtig sind, wie Tennisspieler Novak Đoković oder der wie ein Gott verehrten Basketballlegende Dejan Bodiroga. Sie unterstützen die Forderung nach schonungsloser Aufklärung. Der Verdacht: Vetternwirtschaft und Pfuscherei der Regierung hätten zu dem tödlichen Einsturz geführt, trauriger Höhepunkt eines komplett verwahrlosten Systems.
Hier erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche: „Grauzone“ von Erica Zingher
Wenn es im Iran wie letzthin durch die Frauen zu großem Protest gegen die Regierung kommt, findet sich in Europa auf Straßen und in Kommentaren große Anteilnahme, Beschäftigung, Wut und Solidarität.
Wenn in Osteuropa Menschenmassen auf der Straße für Demokratie einstehen, dann herrscht auffällige Zurückhaltung unter den im Westen lebenden Brüdern, Schwestern, Diversen. „Ja, hab ich auch in meinem Feed gesehen.“ „Toll, ja, aber warum genau stehen die da noch mal?“ „Ich kenn mich da ja nicht aus.“ So lauten die Sätze, die nicht fallen, wenn es um den Iran oder Syrien geht, sondern um Tiflis oder Belgrad, das von München nicht viel weiter entfernt ist als Kiel.
Warum ist das immer noch so? Sieht der Westen im Osten immer noch vor allem Kriminelle in Kunstlederjacken, die mit Frauen handeln und Vegetarier dissen? Ich wünsche mir für 2025, dass endlich eintritt, an was immer wieder appelliert wird: mehr Aufmerksamkeit und Herz für Osteuropa. Seine Rolle für und in Europa ist mindestens so wichtig wie die ostdeutschen AfD-Wähler*innen, die sich in ihrer Identität als Benachteiligte einzementiert haben – und das, obwohl die meisten von ihnen wenig dafür aufs Spiel gesetzt haben, in den Westen zu kommen.
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