Dorfliteratur, vielstimmig, vulgär und vital: Ganz China ein Dorf

Die interessanteste chinesische Gegenwartsliteratur spielt auf dem Land. Es sind hoch- oder postmoderne Heimatromane voller Dämonen und Anekdoten, Sex und Gewalt.

Eine Bauer holt seine Soja-Ernte vom Feld. Bild: ap

Kaum ein Land der Welt verändert sich im Augenblick rasanter als China: Kleinstädte mausern sich in Turbogeschwindigkeit zu Großstädten, Großstädte zu Millionenmetropolen, und über Nacht schießen an Straßenkreuzungen neue, glitzernde Wolkenkratzer aus dem Boden, wo gerade noch Bauern ihre Tomaten vom Eselskarren verkauften. Natürlich spiegelt sich diese Entwicklung in der zeitgenössischen Literatur wider.

So entsteht eine schnell erzählte, urbane Prosa, die von Taschendieben, Prostituierten oder jugendlichen Aussteigern berichtet, doch unterscheidet sich diese Literatur oft herzlich wenig von urbaner Literatur im Rest der Welt. Anlässlich des China-Schwerpunktes auf der Frankfurter Buchmesse fällt auf: Die wirkliche Stärke der chinesischen Literatur scheint im Moment eher darin zu liegen, die Auswirkungen dieser Umwälzungen auf dem Land zu schildern.

Viele Autoren, die heute in Chinas Städten leben, sind selbst auf dem Land geboren und gehören erst seit Kurzem der gerade erst entstehenden Mittelschicht an. Sie kennen sich aus: Von 1,3 Milliarden Einwohnern sind noch immer stolze 900 Millionen Bauern, die vergleichsweise abgehängt sind von den gegenwärtigen Entwicklungen. Es wäre also vergebens, von der chinesischen Literatur eine "Weltliteratur", wie sie uns vertraut ist, zu erwarten - groß angelegte Familienromane mit popkulturellem oder postkolonialen Hintergrund etwa, wie wir sie von einem Jonathan Franzen oder Jeffrey Eugenides kennen.

So findet sich in der diesjährigen Fülle neu übersetzter chinesischer Romane eine Vielzahl von satirisch-polemischen Dorfgeschichten über Menschenfresser, Blutverkäufer und andere ebenso hart gesottene wie gebeutelte Gesellen. Es sind hoch- oder postmoderne Heimatromane, die vielstimmig und vital erzählt sind, vor vulgären Kraftausdrücken, Dämonen und Anekdoten, Sex und Gewalt nur so strotzen und sich dem neuen China ebenso stur und durchtrieben verweigern wie die Erniedrigten und Beleidigten, die sie beschreiben.

Der produktivste dieser wortgewaltigen Chronisten, die auf diese Weise etwas völlig Eigenes schaffen, ist Mo Yan, von dem gleich zwei dicke Romane auf Deutsch erscheinen: Der aus dem Jahr 1996 stammende, 650 Seiten starke Roman "Sandelholzstrafe" (Insel Verlag) und der 820 Seiten starke "Überdruss" aus dem Jahr 2008 (Horlemann).

Bekannt geworden ist der "schreibende Bauer", wie er sich selbst nennt, in Deutschland durch die Verfilmung seines Romans "Das Rote Kornfeld" (Unionsverlag) durch Zhang Yimou, der auf der Berlinale 1988 den Goldenen Bären gewann.

Wie alle seine Romane spielen auch die beiden neu übersetzten in seinem Heimatdorf Gaomi, dem "zweifellos schönsten und abstoßendsten, einzigartigsten und gewöhnlichsten, heiligsten und korruptesten, heroischsten und feigsten, trinkfreudigsten und liebestollsten Ort auf der Welt", wie er meint.

Im Nachwort von "Der Überdruss", der teilweise aus der Sicht eines erschlagenen Großgrundbesitzers erzählt, der als Esel, Stier, Schwein, Hund und Affe wiedergeboren wird, behauptet Mo Yan, er habe diesen Roman nicht am Computer, sondern handschriftlich binnen 43 Tagen niedergeschrieben - eine Arbeitsweise, mit der sich Mo Yan in die Tradition des mündlichen Erzählens und dessen wilden Wucherungen und ornamentalen Redundanzen, die im gesprochenen Text als Gedächtnisstützen dienen, stellt. Die ungestüme Kraft und dreiste Furchtlosigkeit der mündlichen Erzählung transportiert man manchmal besser, wenn man den Text einfach runterrockt.

Dorfromane wie die Mo Yans entziehen sich dem Koordinatensystem geläufiger Weltliteratur. Auch mit der Kulturpolitik des Sozialistischen Realismus, der einst ganze Heerscharen Intellektueller aufs Land zwang, um dort die fortschreitende Kollektivierung zu verklären, und der bis heute in China nachklingt, haben sie nichts im Sinn. Sie sträuben sich gegen die Tendenz vieler chinesischer Autoren von den 1920er-Jahren bis zur Gegenwart, literarische Moden aus dem Ausland auf simple Weise zu imitieren und weisen zugleich die Forderung des chinesischen Literaturestablishments zurück, Kultur müsse stets hehr und heilig sein.

In diesen maßlosen Romanen, die vielleicht das Ordinärste, aber auch das Originärste sein mögen, was die chinesische Literatur derzeit hervorbringt, geht es stattdessen um das Leiden und die Brutalität. Und darum, dass der Kaiser fern ist und daher jeder sagen kann, was er denkt.

Das ist es, was auch andere, unbekanntere Autoren an ihren ländlichen Themen interessiert. Xiaolu Guo zum Beispiel, eine in Großbritannien lebende Filmemacherin und Autorin, die mit ihrem dritten übersetzten Buch "Ein UFO, dachte sie" (Albrecht Knaus Verlag) eine Bäuerin im hintersten Winkel Chinas ein UFO sichten lässt. Das Buch erzählt seine Geschichte in Gesprächsprotokollen mit Bäuerinnen und Bauern im Verhör, die nicht besonders gut auf ihr Zuhause zu sprechen sind: "Diese Drecksäcke! Dieses Dreckskaff!", schimpfen sie immer wieder. Wieder so eine Hommage an die Mündlichkeit, die nicht nur der überaus trocken vorgetragenen Verbitterung der Bauern gerecht wird, sondern auch dem bürokratischen Borniertheit des Pekinger Polizeibeamten widerspiegelt, dessen verzweifeltes Auflaufen an den Bauern ("Himmelarsch") sich noch in den Protokollen niederschlägt.

Ein anderes Beispiel: Li Er und sein Roman "Der Granatapfelbaum, der Kirschen dreht" (dtv) über eine Dorfvorsteherin, die den Wahlkampf gewinnen will, und eine Bäuerin, die ihr in die Quere kommt, weil sie trotz Einkindpolitik zum dritten Mal schwanger wird und sich der Zwangsabtreibung entzieht.

Und schließlich: Yan Liankes "Der Traum meines Großvaters" (Ullstein). Für dieses Buch recherchierte der Autor Jahre in einem der Dörfer der Provinz Henan, wo Anfang der Neunzigerjahre das Blutspenden einträgliche Mode wurde und sich die Leute massenweise mit HIV infizierten. Sein Buch über die "Aidsdörfer" ist vielleicht das Traurigste und Melancholischste der genannten Dorfromane. Als die Hauptfigur, der Großvater, daran scheitert, dem Menschen beim Sterben letzte Würde zu ermöglichen, erschlägt er seinen Sohn, der für die unhygienischen Blutspenden mitverantwortlich war. Er kann nicht tatenlos zusehen, irgendwie muss er wenigstens versuchen, etwas wiedergutzumachen.

All diese Bücher beschreiben drastisch direkt die Nöte von Menschen am Rand, die, wenn sie sich auch nicht mehr zu helfen wissen, sich zumindest nicht unterkriegen lassen. Damit entwickeln die Romane einen Strang der modernen chinesischen Literatur weiter, der unter Mao gründlich der Garaus gemacht wurde und den man bei zwei großartigen chinesischen Autorinnen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachlesen kann, die anlässlich der Buchmesse wiederverlegt wurden beziehungsweise erstmals auf Deutsch erscheinen: Xiao Hong und Zhang Ailing.

Diese wohl wichtigsten Autorinnen der chinesischen literarischen Moderne haben beide Dorfromane geschrieben, wie sie unter Mao nicht mehr möglich waren. In beiden geht es um starrköpfige Schildbürger, die in ihrer bockigen Unbelehrbarkeit immer noch vernünftiger erscheinen als alles, was aus den Städten kommt.

Während Xiao Hong in ihrem berühmten Buch "Menschen vom Hulanfluss" (1942) ihre Kindheit in einer Kleinstadt im äußersten Nordosten des Landes beschreibt, wo noch Kindsbräute zu Tode gequält werden und niemand zum Zahnarzt geht, weil dieser mit neumodischer Werbung protzt, hat Zhang Ailing ihr Buch "Das Regenpflanzerlied" als antikommunistisches, das China Maos vorwegnehmendes Kammerspiel angelegt.

Die Kollektivierung bringt nichts als immer noch mehr Hunger. Als der junge, ambitionierte Schriftsteller aus der Stadt weder etwas in diesem Dorf findet, das ihn satt macht noch einen Stoff, der für einen neuen Revolutionsmythos taugt, denkt er sich eine Geschichte eines heroischen Dammbaus aus, wie er in diesem Landstrich nie stattfinden wird - und, versteht man den Dammbau als Insignie der Moderne - bis heute nicht stattgefunden hat.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.