piwik no script img

Archiv-Artikel

Doppelmoral im Nahen Osten

Der Grenzzaun in Israel ist eine politische Frage – die juristisch entschieden werden muss. Wer den Internationalen Gerichtshof für unzuständig erklärt, untergräbt das Völkerrecht

Geht es um den Nahost-Konflikt, werden viele menschen- und völkerrechtliche Maximen vergessen

Grundsätzlich darf jeder Grundstückseigentümer seinen Grund und Boden mit einem Zaun oder einer Mauer umgeben, wenn er sich an die Bauvorschriften hält. Ob dies ästhetischen Ansprüchen genügt oder die Freundschaft zum Nachbarn fördert, sei einmal dahingestellt. Ähnliches gilt prinzipiell auch im Völkerrecht: Jeder Staat kann seine Grenzen schützen und darf auch eine Mauer oder einen Zaun bauen – aber nur auf der Grenze und keinesfalls auf dem Nachbargebiet. Das Recht des israelischen Staates, seine Staatsbürger durch eine Grenzmauer vor terroristischen Angriffen zu schützen, ist somit allgemein anerkannt. Zur Debatte im Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag steht deshalb nur der Verlauf der israelischen „Trennungsmauer“, die zu großen Teilen auf palästinensischem Gebiet entsteht, hunderttausende von PalästinenserInnen von ihrem Land, ihren Familien, ihren Schulen trennt und palästinensisches Land faktisch dem israelischen Staatsgebiet einverleibt.

Die Völkerrechtswidrigkeit von großen Teilen des bisherigen und des geplanten Grenzverlaufs wird deshalb international kaum bestritten. Die UN-Generalversammlung hat die derzeitige Mauer als völkerrechtswidrig bezeichnet. Nur Israel, die USA, Mikronesien und die Marshall-Inseln haben dem widersprochen. Die Bundesregierung stimmte den entsprechenden Beschlüssen sowohl der Vereinten Nationen als auch der EU zur Völkerrechtswidrigkeit des Mauerbaus zu. Allerdings hat sich Deutschland gemeinsam mit den anderen EU-Staaten in der UN-Generalversammlung der Stimme enthalten, als es um den Beschluss zur Einholung eines völkerrechtlichen Gutachtens beim IGH ging. In öffentlichen Stellungnahmen zu diesem Verfahren, das Ende Februar mit einer dreitägigen mündlichen Anhörung spektakulär begann, hat die Bundesregierung die Zuständigkeit des IGH und die Rechtmäßigkeit des Verfahrens zwar nicht bezweifelt, das Verfahren aber als inopportun bezeichnet, da – so der deutsche Außenminister Joschka Fischer – die Mauerfrage eine politische, keine juristische sei.

Niemand wird daran zweifeln, dass der israelisch-palästinensische Konflikt kaum durch den Internationalen Gerichtshof gelöst werden wird, aber die Argumentation ist dennoch friedenspolitisch falsch und völkerrechtlich gefährlich: Alle Völkerrechtsfragen sind politisch von mehr oder weniger großer Bedeutung. Es sei in diesem Zusammenhang nur an die Verfahren zur Apartheidpolitik Südafrikas oder zur Völkerrechtswidrigkeit atomarer Rüstung erinnert. Wer also argumentiert, politische Fragen gehörten nicht vor ein internationales Gericht, entzieht damit dem Völkerrecht den Boden und untergräbt die Legitimation internationaler Gerichte. Soll der Internationale Gerichtshof in Den Haag nur Recht sprechen dürfen, wenn das Ergebnis unpolitisch – oder ist damit etwa gemeint: politisch opportun – ist? Wer soll eigentlich darüber entscheiden, ob eine Rechtsfrage unpolitisch und damit der Rechtsweg zum IGH zulässig ist? Wer sich zudem in politischen Grundsatzreden für die „Verrechtlichung der internationalen Beziehungen“ und den „Vorrang des Völkerrechts“ einsetzt, muss sich den Vorwurf der double standards, der Doppelmoral, gefallen lassen, wenn er nun bei der israelischen Trennungsmauer plötzlich das Primat der Politik gegenüber dem Völkerrecht reklamiert und die Berufung auf das internationale Recht als inopportun bezeichnet. Schließlich sollte mit der Verrechtlichung der zwischenstaatlichen Beziehungen und der Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit gerade ein zivilisierter Weg gefunden werden, um politische und gewaltträchtige Konflikte zu lösen und politischer Willkür und militärischer Macht Einhalt zu bieten. Hat nicht eben diese Bundesregierung vor dem Irakkrieg dafür plädiert, der „Macht des Stärkeren“ die „Stärke des Völkerrechts“ entgegenzusetzen? Und nun soll das Völkerrecht bei der politischen Lösung von Konflikten – beispielsweise des israelisch-palästinensischen Konflikts – keine Rolle mehr spielen?

Vollends ad absurdum wird diese friedenspolitisch so kontraproduktive Argumentation geführt, wenn hinzugefügt wird, dass das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof den israelisch-palästinensischen Friedensprozess – welchen eigentlich? – störe. Da liegt der Schluss nicht fern, dass Völkerrecht und Frieden wohl unvereinbar sind, oder zugespitzt: Wer sich auf das Völkerrecht beruft, gefährdet den Frieden.

Nachdenklich stimmt, dass so viele friedenspolitische, menschen- und völkerrechtliche Maximen in Vergessenheit geraten, wenn es um den Nahostkonflikt geht. Selbst wenn Rechtsverstöße ausdrücklich gerügt werden, bleiben sie doch fast immer folgenlos. So wird die Siedlungspolitik Israels in den besetzten Gebieten seit Jahrzehnten als völkerrechtswidrig bezeichnet; die gegenüber palästinensischen Städten und Dörfern verhängten Kollektivstrafen der israelischen Besatzungsmacht sind unzählige Male verurteilt worden; die außergerichtlichen Hinrichtungen von tatsächlichen oder vermeintlichen Terroristen werden hingenommen. Von der internationalen Gemeinschaft wird im „Interesse des Friedens“ seit Jahrzehnten auf die Durchsetzung völkerrechtlicher Grundsätze in der nahöstlichen Region verzichtet. Wer – besonders nach dem mit so vielen Illusionen verbundenen Friedensschluss von Oslo – die Einhaltung von Verträgen und Vereinbarungen forderte und den Respekt für Völkerrecht und Menschenrechte einklagte, störte die vermeintliche Friedensdynamik. Frieden war wichtiger als Völkerrecht, nicht Rechtstaatlichkeit, sondern Friedensschaffung stand auf der politischen Tagesordnung. Die Nachsicht, mit der man insbesondere israelische Rechts- und Vertragsverstöße betrachtete, wurde als Beitrag zum Frieden verklärt.

Jeder Staat kann seine Grenzen schützen und darf auch eine Mauer oder einen Zaun bauen – aber nur auf der Grenze

Das Ergebnis ist bekannt. Das Scheitern des Friedensprozesses geht mit einem weitgehenden Verlust der völker- und menschenrechtlichen Maßstäbe einher: Wilder Westen im Nahen Osten. Gewiss, das Verfahren in Den Haag ist auch ein gigantisches PR-Unternehmen, doch es bietet die Chance, völkerrechtliche Maßstäbe wieder geradezurücken und ein zentrales Ziel deutscher Außenpolitik, nämlich die Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen, voranzutreiben. Gewiss, die Pflege des besonderen deutsch-israelischen Verhältnisses ist ein legitimes Anliegen, ja eine historische Verpflichtung, doch die Glaubwürdigkeit deutscher Außenpolitik erleidet Schaden, wenn friedenspolitische Einsichten der Rücksichtnahme auf die jeweilige israelische Regierung geopfert werden. Gewiss, das Scheitern des Oslo-Prozesses hat viele Gründe, jedoch bislang wenig Konsequenzen. Vielleicht sollte man sich dann und wann an die eigenen friedenspolitischen Grundsätze erinnern. Zum Beispiel an die banale Einsicht, dass für die politische Lösung von internationalen Konflikten das Völkerrecht unverzichtbar ist. CHRISTIAN STERZING