■ Dokumentation der Erklärung der Roten Armee Fraktion: „Nehmt das nicht hin!“
Die Terroraktion von BAW, BKA und VS in Bad Kleinen, ausgeführt von ihren Killertruppen, der GSG 9 und MEK – die Verhaftung von Birgit Hogefeld und die kaltblütige Ermordung von Wolfgang Grams haben uns tief getroffen.
Wir sind auch nach unserer einseitigen Rücknahme der Eskalation im April 92 nicht davon ausgegangen, daß der Staatsschutzapparat aufhören würde, nach militärischen Schlägen gegen uns zu lechzen – daß ihre Linie Vernichtung ist, war auch an der neuen Eskalation ihres Terrors gegen unsere gefangenen GenossInnen offensichtlich.
Trotzdem ist es eine große Erschütterung, plötzlich in dieser Kälte und Brutalität damit konfrontiert zu sein. Auch der Gedanke, daß Wolfgang jetzt noch leben könnte, wenn diese Spezialkiller sich nicht bis ins tiefste Innerste zum Mord legitimiert und von oben gedeckt sehen würden – es ist nicht einfach, das alles gefühlsmäßig an sich heranzulassen. Sie haben eine Genossin und einen Genossen aus ihrem Lebenszusammenhang gewalttätig herausgerissen.
Wir denken vor allem an die letzten zwei Jahre, an die gemeinsame Anstrengung, die es bedeutet hat, zu der Entscheidung, einen Einschnitt in unsere Geschichte zu machen, zu kommen, und uns selbst mit anderen Augen sehen zu können, uns zuzugestehen, daß wir auf der Suche sind und nicht alle Antworten parat haben.
Der Prozeß in dieser ganzen Zeit hat von allen Mut zu Kritik und Selbstkritik erfordert, was oft auch schmerzhaft war.
Es war eine große Sache für uns gewesen, unsere eigene Geschichte zu überprüfen und Fehler wie Stärken bewußt zu sehen – das hieß, uns die eigenen Erfahrungen wirklich tief aneignen zu können. In der letzten Zeit ist es daraus möglich geworden, daß sich das Gewicht in unseren Auseinandersetzungen immer mehr auf die Zukunft gerichtet hat: Die Lust, Neues herauszufinden und ein großes Bedürfnis, sich alles an Wissen über die veränderte Situation und den sich aus ihr ergebenden Möglichkeiten anzueignen, aus den Erfahrungen von anderen Kämpfen zu lernen und unsere eigenen Kriterien und Vorstellungen beim Aufbau einer sozialen Gegenmacht von unten anwenden und einbringen zu können.
Jetzt ist Wolfgang tot, ermordet. Wir trauern um ihn. Wir werden ihn sehr vermissen.
Seine Skepsis gegenüber vorschnellen Entscheidungen, seine Geduld, etwas auch mehr als einmal zu hinterfragen, was von allen anderen Genauigkeit in der Auseinandersetzung gefordert hat und was nicht immer bequem war – damit hat er z.B. dafür gesorgt, alle Aspekte der Situation oder der eigenen Vorstellung anzusehen und nicht nur die Aspekte wahrzunehmen, die einen selbst bestätigen. Auch das wird uns fehlen.
Wir werden die Erinnerung an ihn, unseren Genossen, der sein Leben mit aller Entschiedenheit dem Kampf um Befreiung von Unterdrückung widmete, in unseren Herzen behalten.
Am 10.4.92 haben wir die Eskalation in der Auseinandersetzung mit diesem Staat von unserer Seite aus zurückgenommen: Wir stellten die Angriffe gegen Repräsentanten von Staat und Kapital ein. Das entsprach unserem Interesse, denn wir wollten einen entschiedenen Schritt machen, um zur Neubestimmung unserer und linker Politik überhaupt zu kommen. Die Priorität der politischen Auseinandersetzung statt Eskalation der Konfrontation war notwendig. Wir haben einen Einschnitt in unserer 22jährigen Geschichte gemacht, und wir hatten die Vorstellung, daß in dieser Phase die Freiheit der politischen Gefangenen durchgesetzt werden muß und kann. Dem gegenüber jedoch stand und steht ein Staat, dessen klarste Orientierung das Ausmerzverhältnis gegenüber linker Fundamentalopposition zu sein scheint. Es hätte einer politischen Entscheidung des Staates bedurft, doch dazu ist die Elite von Staat und Wirtschaft weder willens noch in der Lage. Das beweisen sie ständig aufs neue. Politische Entscheidungen in substantiellen Fragen werden auf die Apparate von Justiz, Polizei und Militär abgeschoben und durch deren Maßnahmen ersetzt.
Der Staat hat die Rücknahme der Eskalation von unserer Seite aus sowie unsere veröffentlichte Selbstkritik als Zeichen von Schwäche genommen. Sie haben die Situation für die politischen Gefangenen nur weiter verschärft, sowie eine neue Prozeßwelle gegen unsere gefangenen GenossInnen begonnen.
Die gesamte Entwicklung der letzten Jahre sowie der Staatsterror vom 27.6.93 im besonderen werden sicher mehr Menschen die Augen öffnen, was in diesem Land, das in der tiefsten Krise des zusammenbrechenden kapitalistischen Systems zur Weltmacht strebt und darin immer mehr um sich schlägt, Menschenrechte bedeuten. Da, wo Menschenrechte den staatlichen Konzepten im Wege stehen, bedeuten sie nichts – genauso wenig wie dort, wo sie wirtschaftlichen Interessen im Wege stehen.
Der Kapitalismus geht immer über Leichen.
Dieses System muß überwunden werden – darin werden wir unseren Weg finden, wie wir es in den Erklärungen seit dem 10.4.92 gesagt haben. Allerdings ist die Ausgangsbedingung eine neue: Wolfgang ist hingerichtet worden.
Die Herrschenden wollen die Lähmung von allen auf unserer Seite.
WIR RUFEN ALLE MENSCHEN, DIE DIESER TERROR BETROFFEN GEMACHT HAT, DAZU AUF: GEHT NICHT ZUR TAGESORDNUNG ÜBER! NEHMT DAS NICHT HIN!
Das Schmierentheater um den Mord an Wolfgang soll zu einer Effektivierung des Apparates führen. Penner (SPD) bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „Sowas kann ja immer mal passieren“, und sich ansonsten über die schlechte Informationspolitik beschwert. Da sehnen sich einige zu Verhältnissen wie 77 zurück, als unter SPD-Regie 1977 totale Nachrichtensperre herrschte und die Lügen schon vorher eingeübt waren. Der Skandal ist für sie, daß sie nicht in der Lage sind, sich auf eine einheitliche Lüge zu einigen. Killfahndung und den Mord an Wolfgang bezeichnen sie menschenverachtend als Panne.
Nachdem Seiters rechtzeitig seinen Kopf aus der Schlinge gezogen hat, zeigt die Ernennung eines Republikaner-Sympathisanten und Möchtegern-Generals zum Innenminister mehr als deutlich, wohin die Reise in Deutschland gehen soll.
23 Jahre haben gezeigt, daß weder die RAF noch Widerstand überhaupt militärisch auszulöschen sind. Und das wird solange so bleiben, wie Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit dieses Land und die Welt regieren.
Birgit, wir umarmen dich sehr fest! Rote Armee Fraktion 6. 7. 1993
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