■ Dokumentation: Auszüge aus der Rede Fritz Sterns anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels: Es gibt kein Ende der Geschichte
Heute verleihen Sie den Preis einem Historiker, einem Erben einer alten Kunst und einem Schüler einer relativ neuen, sich stets ändernden Wissenschaft. Wir Historiker sind aufeinander angewiesen, lernen voneinander, und daher [...] möchte ich Ihren Preis umdeuten als eine Anerkennung der Historie überhaupt, unseres Bestrebens, der Gegenwart die Vergangenheit darzustellen.
[...] Diese Feier ist die letzte in diesem Jahrhundert und die erste in der neuen Berliner Republik. Unvermeidlich stoßen wir auf Vergangenheit und Gegenwart: Sie sind untrennbar. Es gibt kein Ende der Geschichte, auch keinen Schlussstrich, keinen völlig neuen Anfang. Trotzdem begrüße ich die neu proklamierte Berliner Republik mit großem Vertrauen und mit kleinem Unbehagen. Die ersten 50 Jahre der Bundesrepublik rechtfertigen das Vertrauen. Das Unbehagen entspringt der Benennung: Warum müssen deutsche Demokratien durch Städte begrenzt oder identifiziert werden: Weimar, Bonn, Berlin. Damit wird die unerwünschte Diskontinuität nur unterstrichen. Warum nicht endlich eine deutsche Demokratie, wie so manche sie sich hier in der Paulskirche gewünscht [...] haben?
Als mir Herr Ulmer am 19. April die mich völlig verblüffende Nachricht übermittelte, dass ich den Friedenspreis erhalten sollte, standen wir am Anfang eines Kriegs, der nicht aus nationalem Egoismus oder aus wirtschaftlichen Interessen entsprang, sondern aus dem Entschluss einer demokratischen Allianz, eine brutale Unmenschlichkeit nicht länger zu dulden. Die militärische Verteidigung der Menschenrechte ist etwas Erstmaliges, aber in einer Zeit des neu aufsteigenden Nationalismus [...] stehen uns ähnliche Fälle bevor. Diese Entscheidungen können nicht ad hoc erledigt werden; als Mindestvoraussetzung brauchen wir ein klares Konzept für das Zusammenwirken der westlichen Demokratien. Die Verantwortung sollte nicht allein bei der einen globalen Macht liegen.
[...] Der Erste Weltkrieg – die Urkatastrophe in diesem Jahrhundert – entstand zum Teil aus den inneren Zerwürfnissen der großen Mächte, gerade auch in dem kaiserlichen Deutschland, diesem zerrissenen Land, in dem paranoide Angst vor so genannten inneren Feinden die Angst vor äußeren Feinden schürte. Der innere Friede ist Voraussetzung für maßvolle Politik nach außen. Auch daher meine Hoffnung, schon oft geäußert, dass das neue Deutschland seine innere Versöhnung finden möge. Es darf in diesem Deutschland keine Bürger zweiter Klasse geben oder Menschen, die sich als solche empfinden; es hat genug Bürger zweiter Klasse in der Geschichte gegeben. Ich habe es selber erlebt.
Wir stehen am Ende des grausamsten Jahrhunderts in der Geschichte Europas – eine solche Vergangenheit vergeht nicht. Sie ist gegenwärtig in allen unseren Ländern, aus begreiflichen Gründen besonders stark in Deutschland. Mit Recht gibt es Mahnungen gegen Vergessen, diese Stimmen aber beschwören keine Schuld für die heutige Generation.
[...] Die meisten Historiker [...] waren eher autoritätskonform und passten sich an jegliches Establishment an, sie wollten und sollten ja identitätsstiftend sein, ihrer Nation eine glorreiche Vergangenheit präsentieren. Kritik war suspekt und meist unerwünscht. Für radikal kritische Darsteller [...] gab und gibt es im Deutschen den hässlichen Ausdruck des Nestbeschmutzers, der meist die trifft, die das Nest bereinigen wollen.
[...] Was aber deutsche Historiker in kritischer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in den letzten 40 Jahren erreicht haben, ist bewundernswert. Wir haben heute ein sehr viel nuancierteres Bild der deutschen Vergangenheit als je vorher. Historikerstreit hat es gegeben und wird es immer geben: Aber was erreicht wurde – die Verbindung mit der internationalen Forschung, der Einklang mit Fachkollegen in Ausland –, wird nicht leicht verloren gehen.
Wir leben heute im Zeichen einer Erinnerungskultur, in der die Erinnerungen Einzelner ebenso wie öffentliche ritualisierte Erinnerung einen wichtigen Platz einnehmen. In den 80er-Jahren begann eine Welle von Erinnerungstagen, die die Schreckenszeiten ins Gedächtnis riefen [...] Die 100 Millionen Europäer, die in diesem Jahrhundert einem unnatürlichen Tode verfallen sind, bleiben in unserem Gedächtnis.
[...] Jeglicher Revisionismus bringt neue Entzweiung mit sich. Deutschland mit der größten Last hat am frühesten mit diesem Revisionismus angefangen; man muss hoffen, dass die schwer erkämpfte Offenheit bestehen bleibt. Deutsche Geschichte wird immer umstritten bleiben, und zwar die gesamte Geschichte und besonders die des Dritten Reiches [...] Ein ausgewogenes Urteil über die eigene Vergangenheit zu gewinnen ist nicht leicht.
Am Vorabend des Schweizer Nationalfeiertages hörte ich die Bundespräsidentin Ruth Dreyfus sagen, dass sie an ihr Land mit „Dankbarkeit und Schmerz“ denkt. Diese Worte empfand ich als einen neuen und überzeugenden Ton in der politischen Sprache Europas; sie beschreiben eine schwierige, aber notwendige Mischung der Gefühle.
Erinnerung und Historie sind verwandt und doch tief verschieden. Erinnerung klammert sich an symbolhaltiges Geschehen, ein Bild aus der Vergangenheit haftet in uns. Erinnerung mag mächtig und kann doch ungenau sein, sie hält uns wach, aber führt uns nur an die Schwelle von historischem Verständnis. Erinnerung ist keine erforschende Rekonstruktion der Vergangenheit.[...]
Ich habe meine eigenen Erinnerungen: Die Zeiten des Nationalsozialismus sind mir schärfer im Bewusstsein als die Erlebnisse ruhiger Zeiten. Als Siebenjähriger habe ich die Wochen der Machtergreifung erlebt, die ersten Verschleppungen der politischen Feinde des neuen Regimes, Freunde meiner Eltern. Die ersten Opfer des Nationalsozialismus und der wieder eingeführten Folter waren so genannte Arier. Zynischer Sadismus begleitete das Regime von Anfang an. Dachau war mir ein Schreckensbegriff, und ich erinnere mich an die Angst, die der Terror verbreitete, auch an die Hetze gegen Juden, an ihre stets erweiterte Ausgrenzung wie auch an den Anstand von treu gebliebenen Freunden, an Pastoren der Bekennenden Kirche, die mehrmals im Gefängnis verschwanden – zu einer Zeit, da die meisten Menschen dem Regime und seinen Erfolgen mit Begeisterung folgten.
[...] Die Erinnerung an die Vergangenheit mag die Errungenschaften der Gegenwart klarer erscheinen lassen. Wir haben von ihr gelernt: Faschistische Diktatur gab den Anstoß zu der Erklärung universaler Menschenrechte – die allerdings für lange Zeit unbeachtet blieb. Erst jetzt und nur in einigen Regionen der Welt scheint man bereit zu sein, sie tatkräftig zu schützen. Die mühselige Integration Westeuropas – die sich hoffentlich sehr bald auf Gesamteuropa erstreckt – war Antwort auf die mörderischen Bürgerkriege, die Europa an den Rand des Abgrunds geführt hatten. Beispiel Deutschland: Die Väter des deutschen Grundgesetzes haben das Scheitern Weimars berücksichtigt. Als die Bundeswehr gegründet wurde, hat man den Bürger in Uniform als Ziel gesetzt und dem Kadavergehorsam ein Ende bereiten wollen.
Aber eine andere Grunderfahrung der früheren Jahre sollte uns nicht verloren gehen. Der große deutsche Physiker Max von Laue, der sich unter dem Nationalsozialismus vorbildlich benahm, schrieb nach dem Krieg: „Wir haben alle gewusst, dass Unrecht geschah, aber wir wollten es nicht sehen, wir betrogen uns selbst und brauchen uns nicht zu wundern, dass wir dafür zahlen mussten.“ Dieses „Wir wollten es nicht sehen“ halte ich für die Furcht erregende Signatur unseres Jahrhunderts: Selbst in diesem Jahrzehnt haben wir den brutalen Zerfall des früheren Jugoslawien zu ignorieren versucht, uns mit Ausreden beruhigt, dass diese Menschen schon immer dem Hass und Morden verfallen sind, dass sie unheilbar anders sind als wir.
Das Wegsehen ist nicht nur ein moralisches Versagen, es hat praktische, zerstörerische Folgen. In den ersten Jahren des nächsten Jahrhunderts wird eine völkerrechtliche Basis für die Intervention gegen staatliche Verletzung von Menschenrechten zu schaffen sein. Die Vergangenheit hat uns in mancher Hinsicht gelehrt, wie man es nicht machen soll; wie man es machen soll, bleibt die Aufgabe der Zukunft. [...] Fritz Stern
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