Dogan Akhanli und die türkische Justiz: Ein Mann mit zu viel Geschichte
Der Schriftsteller Dogan Akhanli lebt seit fast 20 Jahren in Deutschland. Bei der ersten Reise in die alte Heimat wird er verhaftet. Am 8. Dezember beginnt der Prozess.
Dies ist die Geschichte eines Mannes, der nach fast 20 Jahren in das Land zurückging, aus dem er einst geflohen war. In das Land, in dem er gefoltert wurde und in dessen Sprache er danach Romane schrieb. Es ist die Geschichte von Dogan Akhanli, der ab 8. Dezember in Istanbul vor Gericht steht, angeklagt, Raubmörder und Kopf einer terroristischen Verschwörung gegen die Türkei gewesen zu sein.
Es gab viele Gründe, warum Akhanli in die Türkei zurückkehren wollte. "Ich schreibe über die Türkei", sagte er bei einem Abendessen in Berlin kurz vor seiner Abreise. "Ich denke über die Türkei nach, ich möchte mit Menschen in der Türkei reden." Er erzählte von seinem neuen Buch. "Ich habe endlich darüber schreiben können." Er meinte die Folter. Auch sie sei ein Grund, warum er gehen müsse. Er hoffte, wenn er sehen könne, wie sich die Türkei verändert habe, könne er vielleicht damit fertigwerden.
Wie viele Folteropfer ist der 53-Jährige nie über das hinweggekommen, was zwischen 1985 und 1987 im Militärgefängnis von Istanbul mit ihm geschah. Über diese Geschehnisse schrieb Akhanli 2008 in dem Text "Die Fremde und eine Reise im Herbst": "Derweil der Staat auf seinem Staatsein und ich auf meiner Widerspenstigkeit beharrte, wurde ich mit meiner Frau und unserem damals 16 Monate kleinen Sohn befragt. Die Befragung dauerte einen Monat. Als meine Frau ein Jahr später und ich drei Jahre später freigelassen wurden, waren wir drei unter dem Erlebten brotkrumenklein geworden."
Nun hatte er daraus einen Roman gemacht. "Fazil" solle er heißen, nach der traditionellen türkischen Musik, deren Lieder sein Folterer immer gesungen habe. Das Buch erzähle, "eine Foltersituation" aus den wechselnden Perspektiven von Täter und Opfer. "Ich glaube", sagte der Kölner in seinem bis heute gebrochenen Deutsch, "die Perspektive des Folterers ist mir viel besser gelungen als die des Opfers."
Was ihn noch zur Reise trieb: Er wollte noch einmal seinen kranken, über 90-jährigen Vater wiedersehen. Die Vorstellung, dieser könne wie die Mutter sterben, ohne dass sie sich noch einmal gesehen hätten, verfolgte ihn.
Doch als Akhanli am 10. August nach fast 20 Jahren wieder türkischen Boden betritt, wird er sogleich verhaftet. Der Istanbuler Staatsanwalt Hüseyin Ayar beschuldigt ihn der Teilnahme an einem Raubüberfall 1989 auf eine Wechselstube in Istanbul, bei dem deren Besitzer ums Leben kam. Als Beweis präsentiert Ayar drei Zeugen. Der eine, Hamza Kopal, soll 1992 ausgesagt haben, er habe einen Zettel, der seinerzeit am Tatort gefunden wurde, an Akhanli übergeben.
Allerdings schreibt Kopal am 31. August 2010 in einem Brief an die 11. Strafkammer in Istanbul: "Damals sagte ich unter schwerer Folter und suggestivem Einfluss der Polizeibehörde aus. Die Notiz, die angeblich bei dem Raubüberfall gefunden wurde, habe ich weder erhalten noch Erdogan Akhanli übergeben."
Übereifriger Staatsanwalt
Die beiden anderen Zeugen sind Mustafa und Ünay Tutum, Söhne des Mordopfers, die bei dem Überfall zugegen waren. Sie sollen Akhanli 1992 als einen der Täter identifiziert haben. Am 13. August werden die Brüder zur erneuten Aussage ins Istanbuler Terrorbekämpfungsamt gebracht. Dort sagen sie allerdings genau das Gegenteil: dass der Mann auf den vorgelegten Fotos keiner der Täter war. Zudem schreibt auch Mustafa Tutum am 27. August einen Brief an die Istanbuler Strafkammer und erklärt, dass er, entgegen dem Protokoll von 1992, Akhanli seinerzeit überhaupt nicht anhand eines Fotos identifiziert habe. "Ich tue dies kund mit der Bitte, dass alles Notwendige getan wird, um die wahren Schuldigen zu finden", endet Tutums Brief.
Daran scheint die Staatsanwaltschaft allerdings nicht interessiert. Im Gegenteil: Staatsanwalt Ayar unterschlägt die entlastenden Aussagen der Zeugen zunächst auch dem Haftrichter. Erst nach einer Beschwerde von Akhanlis Anwalt Haydar Erol kommen sie zu den Gerichtsakten. Dennoch lehnt die Strafkammer es ab, den Schriftsteller aus der Haft zu entlassen. Stattdessen wird die Anklage erweitert: Akhanli soll nun Kopf einer Terrorgruppe gewesen sein, die den Überfall zur Geldbeschaffung unternommen und nichts Geringeres als den Sturz der türkischen Regierung zum Ziel gehabt habe.
Dieser Verfolgungseifer der Behörden ist nur zu verstehen, wenn man weiter in der Geschichte zurückgeht. Akhanlis Auseinandersetzung mit dem Staat beginnt, als er 18 Jahre alt ist. 1975 kauft er an einem Kiosk eine linke Zeitung, wird ein erstes Mal für fünf Monate verhaftet und gefoltert. Im Prozess wird er zwar freigesprochen, aber sein Vertrauen in den Staat ist dahin. Als sich am 12. September 1980 das Militär an die Macht putscht, geht der Lehrersohn aus Savsat, der in Trabzon Geschichte und Pädagogik studiert, in den Untergrund. Er organisiert Demonstrationen, druckt Flugblätter und Zeitungen.
Im Mai 1985 wird Akhanli erneut verhaftet. Als der schmächtige, 1,70 Meter große Mann nach zweieinhalb Jahren entlassen wird, sagt er sich von den Genossen der Revolutionären Kommunistischen Partei los. Er zieht sich zurück, lebt in Izmir, später in Istanbul, schlägt sich als Fischer und Instrumentenbauer durch. Wieder droht die Verhaftung, die Familie taucht unter.
1991 gelingt die Flucht nach Deutschland. Akhanli und seine Frau bekommen politisches Asyl. Nach und nach gelingt es, in Köln ein neues Leben aufzubauen. Doch Akhanli plagen Schuldgefühle, weil er sein Land verlassen hat - und paradoxerweise auch, weil er gefoltert worden ist.
Um die Schuld loszuwerden, beginnt er zu schreiben. Seine Erlebnisse und die politischen Ereignisse in der Türkei in den 70er- und 80er-Jahren hat er in den Romanen "Denizi Beklerken" ("Warten auf das Meer") und "Gelincik Tarlasi" ("Das Mohnblumenfeld") verarbeitet. "Kiyamet Günü Yargiclari" ("Die Richter des Jüngsten Gerichts"), das 1999 in der Türkei und 2007 in Deutschland im Kitab Verlag erschienen ist, schließt die Roman-Trilogie ab.
Dieser letzte Band behandelt, sozusagen als Vorgeschichte, den Völkermord an den Armeniern von 1915/16. Doch die systematische Vernichtung von, je nach Schätzung, 500.000 bis 1,5 Millionen Menschen ist in der Türkei nach wie vor ein Tabu. Andere Schriftsteller wie der Nobelpreisträger Orhan Pamuk, die sich damit befassen, werden wegen "Beleidigung des Türkentums" angeklagt, auf Grundlage des berüchtigten Artikels 301 des türkischen Strafgesetzbuchs.
Akhanli ist jedoch 1999 für die türkischen Behörden nicht greifbar. In seiner neuen Heimat Deutschland beginnt er, sich auch mit der Schoah und der deutschen Art der "Vergangenheitsbewältigung" auseinanderzusetzen. Sie beeindruckt ihn. Besonders beschäftigt ihn die Möglichkeit der Versöhnung zwischen Angehörigen von Opfer- und Tätergruppen. Er organisiert Studienreisen mit Menschen unterschiedlicher Herkunft, macht Stadtführungen zu deutsch-türkisch-armenischer Geschichte und gründet in Köln die Raphael-Lemkin-Bibliothek als Begegnungsort für interkulturelle Erinnerungsarbeit.
Dass dieser überzeugte Menschenrechtler nun in der Türkei als "Terrorist" verfolgt wird, hat in Deutschland, dessen Staatsbürger er seit 2001 ist, einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Zahlreiche Politiker, Schriftsteller und Institutionen fordern seine Freilassung. Für den Prozess, sagt sein Anwalt Erol, kann man nur hoffen, dass die Richter "unvoreingenommen und unabhängig entscheiden können". Andernfalls droht dem Schriftsteller lebenslange Haft. Dennoch sei seine "Stimmung besser als die Lage", erzählt Akhanlis in Berlin lebende Freundin Ulla Kux, die ihn seit August dreimal im Gefängnis von Tekirdag besuchen durfte. Er werde anständig behandelt und schreibe wie ein Besessener. Mit Verzögerung kämen inzwischen auch Die Zeit und die taz bei ihm an. Er mache sich morgens Nescafé und lese seine Zeitungen, "fast wie zu Hause".
Diesen Text finden Sie, zusammen mit vielen anderen, auch in der sonntaz vom 4./5. Dezember 2010. Ab sofort mit noch mehr Seiten, mehr Reportagen, Interviews und neuen Formaten. Die sonntaz kommt jetzt auch zu Ihnen nach Hause: per Wochenendabo.
Das "Writers-in-Prison-Committee" des P.E.N.-Zentrums zählt für das erste Halbjahr 2010 weltweit 587 neue Fälle, in denen Schriftsteller verfolgt, inhaftiert oder sogar getötet wurden. Für die Türkei zählt die halbjährliche "Caselist" des Komitees über 80 laufende Urteile beziehungsweise Verfahren gegen Autoren und Verleger auf.
Der Prozess gegen Dogan Akhanli wird von einer Beobachterdelegation aus Deutschland, der auch der Schriftsteller Günter Wallraff angehört, begleitet.
Die Website: Mehr Informationen über den Fall Akhanli im Netz unter www.gerechtigkeit-fuer-dogan-akhanli.de
Dass Akhanli seinen Humor nicht verloren hat, zeigt die Grußadresse aus dem Gefängnis, die kürzlich bei einer Veranstaltung im Kölner Literaturhaus verlesen wurde. Immer habe er davon geträumt, dort eine Veranstaltung zu bekommen: "Wenn ich gewusst hätte, dass es dazu einen solchen Weg gibt, wäre ich viel eher in die Türkei gefahren."
Zwölf Tage vor Prozessbeginn erreicht Akhanli dann die traurige Nachricht: Sein Vater ist gestorben. Die beiden haben sich nicht mehr wiedergesehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“