Diktaturen-Erbe : Südamerika auf neuen Wegen
Joachim Gauck spricht gern vom „deutschen Modell“, wenn er auf die juristische Art der Vergangenheitsaufarbeitung zu sprechen kommt, die sich nach der friedlichen Revolution in der DDR durchgesetzt hat. Es geschieht in Abgrenzung zu anderen Modellen in Südafrika und auch in Südamerika, wo die Beschäftigung mit dem Erbe der Diktatur in diesen Tagen neue Impulse erhält.
Am Kap installierte der ANC unmittelbar nach der Machtübernahme eine „Wahrheits- und Versöhnungskommission“, die neben der Dokumentation schwerer Menschenrechtsverletzungen durch einzelne Täter zugleich die Aufgabe hatte, die Nationenbildung voranzutreiben. Deshalb wurden diejenigen, die zur Aussage bereit waren, nicht bestraft. Immerhin kamen zwischen 1995 und 1998 bei den im Fernsehen übertragenen Hearings jene Menschen zu Wort, die jahrzehntelang Opfer einer brutalen Unterdrückung geworden waren, von der viele Weiße kaum ein Bewusstsein hatten. Als Bischof Desmond Tutu im vergangenen Jahr den Abschlussbericht vorlegte, erhielt das Land eine genau dokumentierte neue Lesart der jüngsten Geschichte.
In Südamerika sorgten die Generale teils vor, teils nach der Machtübergabe für Amnestiegesetze, die sie vor Strafverfolgung schützten. Doch die erstarkenden Zivilgesellschaften sind nicht länger bereit, dies einfach so hinzunehmen. In Chile gibt es inzwischen eine staatliche „Kommission über politische Gefangenschaft und Folter“, die in diesem Jahr 25.000 überlebende Opfer der Repression anhörte. Das Archiv, das die unabhängige „Vereinigung zur Verteidigung der Rechte des Volkes“ über die 17 Jahre der Militärherrschaft erstellte, ist jetzt von der Unesco zum „Dokumentarischen Erbe der Menschheit“ erklärt worden.
In Argentinien geht man noch einen Schritt weiter. Dort wurden „Gerichte der Würde“ installiert, vor die Militärs geladen werden, um sie mit ihren damaligen Taten und den Vorwürfen der Opfer zu konfrontieren. Die Gerichte können keine Strafen verhängen, aber öffentliche Rehabilitierung bewerkstelligen. Auf regionaler Ebene sind die Akten der Geheimpolizei gesichert und für die historische Aufarbeitung erschlossen worden. Das ehemalige Folterzentrum ESMA wurde von Präsident Néstor Kirchner zum Museum erklärt. Auch das so genannte Schlusspunktgesetz von 1986, mit dem eine Verfolgung von Straftaten im „Krieg gegen die Subversion“ ausgeschlossen wurde, will Kirchner in Frage stellen.
Auch in Uruguay zeichnet sich nach dem Sieg des Linksblocks Frente Amplio bei den Wahlen vor einer Woche eine neue Dynamik ab. Vor 15 Jahren hatten die Bürger bei einem Referendum mit knapper Mehrheit ein Gesetz bestätigt, mit dem der Staat auf die Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen aus den Jahren der Diktatur verzichtete. An dieses Gesetz werde man sich zu halten haben, sagte der Parlamentsabgeordnete José Bayardi im Gespräch mit der taz. „Allerdings gilt die Straffreiheit nach Artikel 1 des Gesetzes nur für politische Delikte. Für die Entführung von Kindern kann es aber keine politische Rechtfertigung geben, diese Fälle sind also auf keinen Fall von der Amnestie gedeckt“, schränkt er ein.
Mit Widerstand von Teilen des Militärs sei natürlich zu rechnen, wenn die Justiz nun doch noch an den Kasernen anklopfen werde, sagte Bayardi. „Aber die meisten der heutigen Offiziere waren in die damaligen Verbrechen nicht verwickelt. Warum sollten sie sich diese Last nachträglich aufladen?“
CHRISTOPH LINKS HINNERK BERLEKAMP