Digitalisierung des Gesundheitswesens : Was für ein Tohuwabohu
Unser Gesundheitswesen scheint eingeklemmt zwischen Fortschritt und Datenschutz. Wie können unsere Gesundheitsdaten trotzdem zukunftsfähig werden? Und kann uns Doktor Schiwago dabei helfen?
taz FUTURZWEI | Vor 65 Jahren wurde dem russischen Poeten Boris Pasternak der Literaturnobelpreis verliehen, den er unter Druck der Sowjetunion ablehnte. Zu internationalem Ruhm gelangte Pasternak mit seinem Kultroman Doktor Schiwago. Das Werk liest sich als Antwort auf eine kränkelnde russische Gesellschaft, die in Zeiten großen Wandels lautlos zu rufen scheint: »Doktor! Doktor! Wir brauchen Hilfe.« Im Antlitz eines kränkelnden Gesundheitswesens loben auch wir uns heute einen helfenden Doktor herbei. Dieser Doktor, in Form von statistischen Auswertungen und künstlicher Intelligenz, soll Antworten bieten, wo die menschliche Kapazität im Dschungel eines aufgebauschten Systems an ihre Grenzen stößt.
Das Zusammenführen und Auswerten von Gesundheitsdaten verspricht tatsächlich immenses Potenzial, ob in der Prävention oder beim Abbau von Doppelarbeit. Es geht dabei um Daten aus (Krebs-)Registern, der elektronischen Patientenakte (ePA), Krankenkassen, Krankenhäusern, tragbaren Technologien wie Fitnesstrackern et cetera. Durch die Verknüpfung bislang separater Daten können Muster benannt, Zusammenhänge aufgezeigt und Symptome erklärt werden. Für welche Patientin lohnt sich beispielsweise eine vorsorgliche Mammografie? Klinische Studien, die aktuell vorrangig männliche Probanden einschließen, können mit realen Gesundheitsdaten ergänzt werden, um eine inklusive Therapie- und Medikamentenforschung voranzutreiben (sogenannte »Real World Evidence«). Den Verzicht auf solche Datenauswertungen bezeichnen Enthusiast*innen bereits als unterlassene Hilfeleistung.
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Daten, Daten, Daten
Um die Utopie dieser neuen Digitalität auf realistischen Boden zu bringen, stellt sich zunächst die Frage: Was wird für die zukunftsfähige Nutzung unserer Gesundheitsdaten eigentlich benötigt? Als Erstes eine orchestrierte Zusammenarbeit der von unzähligen Akteur*innen geprägten Gesundheitslandschaft. Im ewigen Streit um die Ökonomisierung des Systems schafft eine angeleitete Debatte und transparente Aufgabenverteilung einen besseren Schutz der Grundrechte. Sei es beim Thema patient*innenzentrierte Versorgung oder im Hinblick auf die Speicherung und Auswertung ihrer Daten.
Mit einem neuen Gesetzesentwurf, dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG), erhalten die ambitionierten Vorhaben nun einen rechtlichen Rahmen. Der Entwurf läutet die nationale Anbindung an den Europäischen Raum für Gesundheitsdaten ein und hat die »erleichterte Nutzbarkeit von Gesundheitsdaten für gemeinwohlorientierte Zwecke« zum Ziel. Was an Infrastrukturen in den letzten Jahren dezentral aufgebaut wurde, soll in eine zentrale Koordinierungsstelle übergehen. Jede und jeder darf grundsätzlich Daten ohne Personenbezug beantragen, die neu geschaffene Stelle prüft diese Anträge, prozessiert und übermittelt Datensätze. Der Spielraum ist dennoch eingeschränkt, zum Beispiel ist es den Kassen untersagt, individuelle Prämienanpassungen vorzunehmen.
Bürokratisches Chaos ist vorprogrammiert
Der Entwurf trifft grundsätzlich auf Zustimmung. Die Befürchtung ist allerdings, dass Strukturen trotz Digitalisierung weiterhin komplex bleiben. Dies zeigt sich am Beispiel Datenschutz. Eine notwendige Voraussetzung für die Bereitstellung von qualitativ hochwertigen und repräsentativen Daten wäre eine bundesweit einheitliche Auslegung des Datenschutzrechts. Datenschutz ist aber Ländersache, das bürokratische Chaos bei Datenbewilligungsanträgen ist programmiert.
taz FUTURZWEI N°27: Verbrauchte Ziele
Das 1,5 Grad-Ziel ist verloren, das 2 Grad-Ziel wohl auch. Braucht es einen Strategiewechsel und wie sieht der aus?
Wir machen Ernst IV, Schwerpunkt: Klimaziele
Mit Lea Bonasera, Kirsten Fehrs, Dana Giesecke, Jonathan Franzen, Anders Levermann, Wolf Lotter, Belit Onay, Katja Riemann – und natürlich Harald Welzer.
Eine weitere Baustelle ist die Auswertung der Daten im Sinne des Gemeinwohls. Klingt hervorragend, doch was heißt es? Welche Institution entscheiden soll, bleibt bislang ungeklärt. Zählt Big-Pharma auch zu Gemeinwohl? Wenn sie nachweislich das Leben mit der Volkskrankheit Diabetes verbessert? Eine Priorisierung von Datenanfragen, die offene Standards, Partizipation und Perspektiven von Zielgruppen und gesellschaftliche Fragestellungen integrieren, wäre eine Annäherung an den beladenen Begriff. Der Schutz von Grundrechten und das Vermeiden von Schäden: die Mindestanforderung von uns allen.
Datenräume sind die Telekommunikation der Zukunft, heißt es. Diese umfangreichen Transformationsprozesse, bei denen alle mitziehen sollen, benötigen Anschub in eine Richtung, gemeinsame Visionen, konkrete Anwendungsfälle und Positivbeispiele. Letztlich wird das nur durch das Vertrauen in die neu etablierten Strukturen gelingen. Vertrauen wird durch Mitgestaltung geschaffen. Mitgestaltung erfordert aber auch die Pflicht, von ihr Gebrauch zu machen. Mit Blick auf das derzeitige Tohuwabohu halten wir es zuversichtlich mit Doktor Schiwago: »Leben bedeutet immer: dem Höheren, der Vollkommenheit entgegenstreben, sich emporschwingen und versuchen, den Gipfel zu erreichen. Niemals und unter keinen Bedingungen dürfen wir verzweifeln.«
■ Anni Verhoeven ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung FUTURZWEI. Sie hat Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft an den Universitäten Potsdam, Würzburg und Cali (Kolumbien) studiert.
■ Rahel Gubser ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medizinische Informatik der Charité Berlin. Sie hat Betriebswirtschaft an der Universität St. Gallen studiert.
Dieser Beitrag ist in unserem Magazin taz FUTURZWEI N°27 erschienen. Lesen Sie weiter: Die aktuelle Ausgabe von taz FUTURZWEI gibt es jetzt im taz Shop.