Dieter Baumann über Laufen : Im Schlafwagen des Schreckens
Okay, ich hatte eine faire Chance. Trotzdem habe ich’s vermasselt. Denn Türen schließen leider selbsttätig
„Unwillig, sie sind total unwillig.“ Wir standen zwischen Toilette und Ausgang im schmalen Gang des City Night Express von Düsseldorf nach München. Der Lärm des Zuges hätte das Wort „unwillig“ fast übertönt, aber nur fast, und so stand es da, das Wort, gesagt vom Oberzugchefschaffner des City Night Express.
Begonnen hatte meine Reise in Düsseldorf. Um 23.10 Uhr sollte die Abfahrt des besagten Zuges sein. Der Schlafwagen war reserviert, ich freute mich aufs Bett. Nachtzug fahren, ich liebe es. In froher Erwartung also marschierte ich zum Bahnsteig und las die Anzeige: Ankunft des Zuges: 22.09 Uhr. Abfahrt: 23.10 Uhr, und: Zug kommt eine Stunde später. Geduldig wartete ich. Die Kälte der Nacht trieb mich schnell hinunter zur Bahnhofshalle. Ein hungriger Geselle hatte ein Stück Brot im einzig geöffneten Lebensmittelgeschäft angebissen und versucht, sich aus dem Staub zu machen. Gerenne, Geschrei.
Gegen 23.30 Uhr spazierte ich zum Informationsschalter. Eine Stunde Verspätung auf die Ankunftszeit oder auf die Abfahrtzeit? Mit wildem Gefuchtel zeigte der Bahnangestellte auf die Anzeige: „Der Computer ist kaputt, das sehen Sie doch.“ Ich sah es nicht, nickte aber verständnisvoll und ging zurück. Kurz darauf schlug die Anzeige am Bahnsteig um: Zug fährt ausnahmsweise auf Gleis 9 ein.
Es war kalt, Zeit also, sich warm zu gehen. So lief ich zur Information, dort standen vier Rucksacktouristen aus Amerika: „Plattform nine?“ – „Der Computer ist kaputt, sehen Sie das nicht?“ Nein, wie auch. Und wieder zurück zum Bahnsteig. Es waren mindestens 300 Meter. Keine 15 Minuten später stand auf der Anzeige: Zug fällt aus, bitte gehen sie zum Infoschalter. Also nochmals zurück.
Ärgerlich schaute mich der Mann an und verwies auf den Computer. Lächelnd entgegnete ich: „Wissen sie, ich laufe unheimlich gerne im Bahnhof hin und her, das hält mich fit.“ Nach einer kleinen Pause schob ich nach: „Aber irgendwie glücklich macht mich die Lauferei im Moment nicht.“ Er begann zu lachen. Na also, dachte ich, Laufen macht doch irgendwie glücklich.
Und dann kam der Zug. Ich fand mein Abteil und mein Bett. Der Zugbegleiter, ein überaus netter, junger Mann, nahm mir mein Ticket ab und bot an, mich um 4.15 Uhr zu wecken. „So früh? Haben wir nicht eine Stunde Verspätung? Es reicht, wenn Sie mich kurz vor Plochingen wecken.“ Das Rattern des Zuges wiegte mich in den Schlaf. Einige Male wurde ich wach, wir standen in Bahnhöfen, ich hörte das Signal zum Abfahren und versank wieder in der traumlosen Dunkelheit des Schlafes. Jemand riss meine Tür auf, es war mein Zugbegleiter, und sagte: „Wir sind in Stuttgart. Soll ich Ihnen das Frühstück bringen?“ Frühstück? Ich schaute zur Uhr. 5.15 Uhr, immer noch eine Stunde Verspätung. „Nein, lieber 20 Minuten länger schlafen. Wecken Sie mich kurz vor Plochingen.“
Wieder schlummerte ich zum Rattern der Räder ein. Kurz darauf wachte ich auf, da stand der Zug abermals. Cannstatt dachte ich, aber im selben Augenblick riss der Zugbegleiter die Tür auf: „Wir sind in Plochingen, Sie müssen raus!“
Zunächst verstand ich gar nichts, Plochingen? Plochingen! „Halten Sie die Tür auf, zur Tür“, rief ich. Gleichzeitig griff ich mir meine Tasche, Jacke und Schuhe und sprintete los, barfuß. Doch im selben Augenblick rollte der Zug an, wir fuhren, die Türen schlossen sich, zu spät.
Mein Zugbegleiter sah mich entgeistert an, ich ihn, wir sagten lange nichts. „Es ist meine erste Fahrt, wissen Sie, meine allererste Fahrt, es tut mir Leid.“ „Wo ist der nächste Halt?“ – „In Göppingen“, weiter kam er nicht, denn der Zugchefschaffner unterbrach ihn: „Sie waren das also?“ Ich sagte nichts. „Sie haben eine Minute Zeit zum Aussteigen, das muss wohl reichen.“ Pause. „Sie müssen eben schneller sein.“
Es war 5.50 Uhr. Ich sagte nichts. „Unwillig. Sie sind total unwillig“, sagte er dann, zwischen Toilettentür und Ausgang. In Göppingen stieg ich in ein Taxi, fuhr zurück und bekam den Anschlusszug in Plochingen doch noch. Das hatte aber nurnoch sportiven Charakter.
Fragen zum Fahrplan?kolumne@taz.deMorgen: Robin Alexander über SCHICKSAL