: Die warme Hölle des Untergrunds
Der Schriftsteller Hubert Fichte hat dem hanseatischen Nachkriegs-Underground ein Denkmal gesetzt: „Die Palette“. Was aber war dieses Lokal, auf dessen Platz heute brave Saubermenschen den Ton angeben? Ein Buch klärt auf
VON JAN FEDDERSEN
Das Viertel glänzt inzwischen. Der Gänsemarkt an seiner südlichen Flanke, das Unilever-Hochhaus zur westlichen und der Springerkonzern mittendrin. An einer Ecke, die der Caffamacherreihe zum Valentinskamp, gleich bei den Wallanlagen, dem öffentlichen Grüngürtel, sind die Häuser noch zu sehen, wie sie früher mal aussahen. Wollte man seinen Bewohnern übel, würde man ihnen unterstellen, sie ernährten sich von Kohlsuppe und Schnaps.
Dahinter verbirgt sich, getrennt noch durch die Musikhalle, ein hanseatisches Repräsentationsquartier nach patrizischen Wünschen, die Neustadt. Ein Viertel, in dessen Kellern es noch muffig riecht; die Fassaden sind so gehalten, dass sie Bürgerlichkeit verströmen, aber es sind keine bourgeoisen Häuser, denn es ist der Kern des früheren Gängeviertels. Jener Gegend Hamburgs, die – wenngleich fußnah zur Reeperbahn, zum Millerntor und zum Gelände des FC St. Pauli – in der Nachkriegszeit kaum proletarisch zu nennen war, denn in ihm lebten die Assis, der Abschaum, die Einzelgänger, die Versteckten, die Raufwütigen.
Dreck überall, rohe Töne, schlechte Zähne, klamme Wände, auch während der braunen Jahre. Die Nazis hatten ihre Probleme mit diesem Viertel, sie konnten es nie ganz erobern. Heute ist alles picobello sauber; Angestellte, überwiegend gut bezahlt, kaufen ein; ein Hotel hat sich angesiedelt. Der Schmutz ist ausgekehrt. Hier, an der ABC-Straße, stand die Wiege eines literarischen Ereignisses – es trägt den Namen einer Kneipe als Titel: „Die Palette“. Hubert Fichte hat das Buch 1968 geschrieben, eine Montage aus Kneipengesprächen, biografischen Schnipseln von den Besuchern jenes Schuppens, Skizzen aus dem stinkenden, rücksichtslosen und zwielichtigen Lebens zwischen schalem Bier und gediegener Bürgerlichkeit.
Ein Lokal, in dem das seinen Ausdruck fand, was mal die Boheme in der Hamburger Nachkriegszeit war – und Vorbild abgab für unzählige ähnliche Gaststätten, die, was die Atmosphäre anbetrifft, nichts zu tun haben mochten oder wollten, was bürgerliche Lokalitäten sonst so haben: „gepflegte Biere“ etwa. Hier war Kampfsaufen eine Disziplin unter anderen, die auf Ekstase setzen, auf Entrückung und Ausstieg aus den Konventionen. Die „Palette“, im echten Leben wie in dem nicht minder wahren des Romans von Hubert Fichte, war Underground, ohne dass es dieses Wort damals schon gab.
Was es in Hamburg gab, waren Jazzkneipen. Aber selbst die, gern im verqualmten Souterrain, wirkten noch gesittet gegen die „Palette“. Denn dort wurde nicht auf Geschmack gegegeben, man hörte, frühere Besucher erinnern sich mit Schaudern, die schlechtesten Schlager, die es auf Erden gab. Jazz – das war schon damals die Tonspur der Eppendorfer und Eimsbütteler, um jene Hamburger Stadtteile zu nennen, die auf gebildete Bürgerlichkeit hielten – aber doch auch auf Moderne.
Der „Palette“ und ihrem Ruhm durch Fichte ist nun ein neues Denkmal gesetzt worden, und es ist wieder ein Buch, was sonst. Jan-Frederik Bandel, Lasse Ole Hempel und Theo Janßen, ohnehin angetörnt von Fichtes Schreiben, von seiner chronistischen Pflicht, auf politische Korrektheit in Hamburg wenig zu geben, haben Zeitzeugen gesucht – und gefunden. Haben sich erzählen lassen von den Helden und Heldinnen aus der Provinz, die auf Jazz pfiffen und deshalb in der „Palette“ eine neue Heimat fanden. Wie sie sich liebten, soffen und verkrachten, prügelten und versöhnten. Eine beißende Sache, dieses Kneipenleben, gnadenlos, ohne Wärme, dieses Wohnzimmer ohne Wolkenstores und Platzdeckchen. Wer weg war, war weg, wer verschwand, wurde nur selten vermisst.
Das Buch jedenfalls ist ein wunderbar grauenvolles Dokument aus dem Nachkriegshamburg, wo sich Reederssöhne trafen und Töchter aus den Angestelltenabgründen der Vorstädte. Man sieht die ProtagonistInnen fast vor sich, wenn sie erzählen von den Nächten, die zu Tagen wurden – und den Tagen, die verschlafen werden mussten. Von den Stürmen, dem Dreck und der Mühsal, irgendwie dann doch noch den Absprung ins normale Leben zu finden.
All die Storys und Döntjes mögen als Hamburger Geschichtchen abgetan werden – aber sie sind nachfühlbar für alle, die selbst nie dort waren: In allen Städten und Kleinstädten gab es irgendwann eine Szene, die der der „Palette“ irgendwie nachempfunden war.
Aus dieser Kulturhaltung – draußen die Spießer, wir hier drinnen die Antis – sind alle Jugendkulturzentren, alle Studentenkneipen geboren worden: Deshalb waren sie, selbst wenn sie nicht im Souterrain lagen, irgendwie immer schummerig, gern im Zwielicht gehalten, im Verschatteten: Licht der deutlichen Sorte erinnerte womöglich zu krass an bürgerliche Gepflogenheiten der Reinheit und des gedämpften Glanzes.
Fichte kannte übrigens kein Erbarmen mit seinen „Palette“-Helden, den Outcasts, den Schwulen und den heimatlosen Seeleuten, den durch Ausbombung und Heimatlosigkeit Verstörten. Vor allem aber machte er sich über die Bürger- und Angestelltenkinder lustig, die gern den Ton angaben und in das arme, ärmliche und armselige Leben der echten Drop-outs schlüpften, als sei es nun ihres: Boheme – das war damals so hip wie heute der lässige Verweis von deren Kindern auf Attac und Protest gegen die Spießer überhaupt. Die Eroberung der Welt, indem man gegen sie ist – und lebt: In dieser Hinsicht war die „Palette“ die perfekte Bühne. Fein ist nachzulesen, dass sich freilich Ulrike Meinhof, schon in Konkret-Diensten, sich diesen Zwängen entzog: Die Journalistin stand nicht so auf Dreck und Bierdunst.
Fichte jedenfalls, ein begnadeter Performer, einer der wenigen Autoren der Nackriegszeit, die das Homosexuelle als Eigenes und nicht als Perverses zu begreifen suchten, wollte keine Folklore schreiben, der „Palette“ kein bierseliges Andenken verpassen. Ihm ging es um die Suche nach dem, was diese Menschen treibt – ein literarisches Echolot dessen, was Zeitgeist mal meinte: ein Experiment in Sachen Gleichzeitigkeit.
Da ist die Rede von Bombenkrieg und vom Überleben, unsentimental und kalt; die Liebe ist bei ihm eine Veranstaltung des göttlichen Zufalls, und falls der nicht kommt, dann eine von Eine-Träne-trocknet-die-andere. Besser: Nichts ist haltbarer als die Liebe zum Dorfkrug, in dem man schwer daran tat, sich mit den Verhältnissen, wie sie sind, abzufinden. Die „Palette revisited“ ist ein liebevoll gestimmter Gnadenakt: grandios.
Literatur: Jan Frederik Bandel, Lasse Ole Hempel, Theo Janßen: „Palette revisited. Eine Kneipe und ein Roman“. Nautilus, Hamburg 2005, 194 Seiten, 16,50 Euro; Hubert Fichte: „Die Palette“. Fischer-Taschenbuch, 256 Seiten, 9,90 EuroVeranstaltung: „Palette revisited“ – eine Präsentation mit Thomas Meinecke und den Autoren, Montag, 26. September, 21 Uhr, Buchhandel Cohen + Dobernigg, Sternstr. 4, 20357 Hamburg; Donnerstag, 13. Oktober, „Palette, Parks, Palais d’Amour. Sub- und Popkulturelles aus Hubert Fichtes Hamburg“, 20 Uhr, Konsum, Stresemannstr. 13, 22769 HamburgJAN FEDDERSEN, Jahrgang 1957, hat die „Palette“ 1963 mit Onkel und Vater besucht – und musste dort am ersten Cola-Rum nippen