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■ Die „verlorene“ Generation der Türken in DeutschlandVerlassenheit, die guttut

„Die zweite Generation der Türken in Deutschland fühlt weder türkisch noch deutsch. Die Türkei muß Maßnahmen treffen, um dafür zu sorgen, daß diese Jugend zurück zu ihren nationalen Traditionen findet“, wirft ein Abgeordneter der konservativen Oppositionspartei ANAP in die Debatte im türkischen Parlament ein, in der es um die Angriffe auf Türken in Deutschland geht. Lange nannte man sie in der Türkei die „verlorene“ Generation. Jetzt, wo sie nach den Mordanschlägen in Solingen aus der Versenkung aufgetaucht ist, teils debattierend, fordernd, teils aggressiv und verbittert, möchten alle, deutsche wie türkische Politiker, sie einfangen. Die Politiker hierzulande mahnen die Aufsässigen zur Vernunft, während sie selbst es jahrelang versäumt hatten, mit ihnen gemeinsam Wege zur Integration und Gleichberechtigung in Deutschland zu finden. Ruhe sollen die Jugendlichen bewahren, die Ordnung müsse um jeden Preis geschützt werden. Welche Ordnung? Die Ordnung à la Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen?

Weit schlimmer als die Brandanschläge in Solingen sind die Spuren, die in den darauffolgenden Tagen öffentliche Reaktionen, Äußerungen und Kommentare gerade unter den türkischen Jugendlichen, aber auch unter einem Teil der deutschen Bevölkerung hinterlassen haben. Lebte man bisher nebeneinander, so steht man sich heute mißtrauisch gegenüber. Ist mein Nachbar ein Nazi? Sympathisiert er mit den Mordbrennern? Haben denn deutsche und türkische Bürger, die in diesem Land leben, grundsätzlich verschiedene Interessen? Diejenigen, die in ethnischen Kategorien denken, drücken der öffentlichen Diskussion mehr und mehr ihren Stempel auf. Türken versammeln sich unter ihrer Fahne, und Deutsche fragen sich, ob dies noch ihr Land sei.

Wie war es eigentlich möglich, daß die Anwesenheit einer so zahlreichen Minderheit in Deutschland wie die der Türken so lange geheimgehalten werden konnte? fragt man sich. Da haben vor allem die Medien ganze Arbeit geleistet! Hatte Desinformation, Ausgrenzung und schlichtes Ignorieren System? Die Türken in Deutschland hatten ihrerseits versucht, nicht aufzufallen, man war unter sich geblieben – eine Minderheit, die es darauf angelegt hatte, unsichtbar zu bleiben. Man hatte das Gefühl, sich in jenes Haus, in das man eingeladen worden war, eingeschlichen zu haben, deshalb entschuldigte man sich auch unentwegt für seine Anwesenheit, machte ab und an zaghafte Versuche, ein Gespräch zu beginnen. Der Gastgeber hielt schließlich eine lange Rede, vor laufenden – vor allem ausländischen – Kameras und betonte immer wieder, wie „gastfrei“ er doch sei. Merkwürdig, daß kein Land so sehr Wert auf die Feststellung legt, daß es gast- und ausländerfreundlich ist, wie Deutschland. Daß Sprache verschleißt, ist den meisten Bonner Politikern anscheinend unbekannt. Das macht sie in gewisser Weise unantastbar. Denn mit Worten ist ihnen nicht mehr beizukommen.

Nicht der Anschlag in Solingen, sondern die gesagten und die ungesagten Worte danach stürzten Deutschland in eine Bürgerkriegsstimmung. Von fast allen wird die Lage falsch eingeschätzt, nicht jedoch von den türkischen Jugendlichen. Sie sind nicht willens, Opfer einer Pogromstimmung zu werden, die von bürgerlichen Schreibtischtätern über Jahre geschürt worden ist und nun von rechtsradikalen Außenseitern ausgeführt wird. Sie suchen die geeigneten Mittel, sich zu wehren. Nicht immer und überall wird man die geeigneten Mittel von den ungeeigneten unterscheiden können.

Ein Gefühl vereint alle: Es ist das Gefühl des Alleinseins, des Auf-sich-selbst-gestellt-Seins. Von der deutschen Politik erwartet kaum noch jemand entscheidende Schritte. Das Vertrauen in Polizei und Justiz ist auf den Nullpunkt gesunken. Vollends enttäuscht ist man von den türkischen Politikern, denen die deutsch-türkischen Beziehungen, das heißt Erhaltung des Status quo, über alles gehen. Die Türkei meint, jetzt in der Pose des betroffenen Opfers in Deutschland etwas Unbezahlbares einkaufen zu können: Stillschweigen gegenüber der eigenen menschenrechtsverachtenden Politik, vor allem gegenüber der kurdischen Minderheit im eigenen Lande. Wer ist der größere Menschenrechtsverletzer? lautet jetzt die Preisfrage. Ein Staat, dessen Armee einen Teil der eigenen Bevölkerung bekriegt, oder ein Staat, dessen Bürger nachts Feuer in die Wohnungen von Menschen, die mit ihnen leben, werfen, nur weil sie eine andere Nationalität besitzen? So weit kommt es, wenn die Politik jeden normativen Grundsatz verliert und nur zum mehr oder weniger geschickten Organisieren des Alltags verkommt.

Doch Deutschlands türkischer Jugend wird die Verlassenheit von allen Seiten letztendlich guttun. Dieses Auf-sich-selbst-gestellt- Sein öffnet auch jenen die Augen, die blind auf die Zauberformel von der multikulturellen Gesellschaft gesetzt hatten. Nun herrscht allerorten Ratlosigkeit und vielleicht die Erkenntnis, daß Deutschland weit entfernt davon ist, eine multikulturelle Gesellschaft zu sein. Wenn sie tolerant ist, wird sie die Minderheiten als Ghettos in sich tragen und dulden. Zu mehr reicht es nicht. Und eine Gesellschaft, in der Integration stillschweigend als Assimilation verstanden wird, wird jeden Ansatz des Fremden, jede Differenz auf Dauer bekämpfen – letztlich auch mit Gewalt.

Die Türken in Deutschland haben sich entschieden: nach Jahren des Schweigens und Duckens wollen sie für ihre Rechte kämpfen. Sie wollen nicht länger Bürger zweiter Klasse in Deutschland sein. Jetzt ist die deutsche Gesellschaft an der Reihe: Wird sie sich den Veränderungen, die die Einwanderung in Deutschland geschaffen hat, weiterhin verweigern? Soll deutsche Identität als Fiktion ungebrochen weiterexistieren? Weder die deutsche Gesellschaft noch das deutsche Selbstverständnis wird von der Tatsache der Einwanderung, das heißt von der Existenz nationaler Minderheiten in Deutschland, die mit der Mehrheit gleichberechtigt und friedlich zusammenleben wollen, unbetroffen bleiben können. Das Festhalten an der Fiktion eines monokulturellen Deutschlands geht nicht nur an der Realität vorbei, es gebiert auch eine gefährliche national-konservative Ideologie, die die demokratisch-pluralistischen Fundamente dieses Staates immer dreister in Frage stellt. Es ist höchste Zeit anzuerkennen, daß Deutschland inzwischen eine nationale Minderheit von fast zwei Millionen Menschen aus der Türkei in sich aufgenommen hat und infolgedessen sich in den nächsten Jahren kulturell und gesellschaftspolitisch erheblich und vor allem sichtbarer als bis jetzt verändern wird. Es wäre die Aufgabe nicht nur der Politik, sondern auch der Intelligenz dieses Landes gewesen, die Deutschen auf eine solche Veränderung auch geistig vorzubereiten. Jetzt rächt es sich, dem Gerede vom „Türkenproblem“ und der „Bedrohung“ und „Überfremdung“ Deutschlands nichts Substantielles entgegengesetzt zu haben. Zafer Senoçak

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